Deutschland landauf, landab zwei politische Grundsätze: Es solle nicht mehr zu Schulschließungen kommen, Präsenzunterricht habe höchste Priorität. Selbst Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD), für drastische Vorsichtsmaßnahmen bekannt, vertritt diesen Kurs.
Als Lauterbach in der vergangenen Woche mit Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) den Entwurf des neuen Infektionsschutzgesetzes vorstellte, betonte er, „dass es einen weiteren Lockdown oder Schulschließungen nicht geben wird“. Schon Wochen vorher hatte Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) erklärt, es dürfe „keine flächendeckenden Schulschließungen mehr geben“. Sie seien ein Fehler gewesen. Es gebe Lernrückstände, Jugendliche litten stärker unter psychischen, sozialen und körperlichen Problemen.
In weiteren Interviews betonte Stark-Watzinger, es sei das oberste Ziel, dass der Präsenzunterricht erhalten werden kann. Es solle „so viel Normalität wie möglich“ herrschen. Schulschließungen könnten nur das „letzte Mittel“ sein. Ein Sprecher ihres Ministeriums erklärt auf WELT-Anfrage, es müsse „alles dafür getan werden, die Schulen offenzuhalten und Präsenzunterricht sicherzustellen. Niemand kann allerdings ausschließen, dass an einzelnen Schulen etwa wegen vermehrter Krankheitsfälle andere Lösungen gesucht werden müssen, den Unterricht sicherzustellen.“ Dafür seien die Länder wiederum zuständig und verantwortlich.
Wie das aussieht, macht jetzt die schwarz-grüne Regierung von Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) in Nordrhein-Westfalen deutlich. Landesschulministerin Dorothee Feller (CDU) hat den Entwurf für eine Distanzunterrichtverordnung vorgelegt, die sich nun in der Abstimmung mit dem Schulausschuss im Landtag und in der Anhörung mit Verbänden befindet. Im Begleitschreiben dazu heißt es: „Im Regelfall wird Unterricht weiterhin in Präsenz, also in aller Regel im Klassenzimmer erteilt. Es ist aber nicht auszuschließen, dass der Präsenzunterricht wegen einer erneut veränderten oder verschärften Infektionslage oder aufgrund einer Extremwetterlage nicht oder nicht in vollem Umfang erteilt werden kann. Für einen solchen Fall wird mit der Ermöglichung von Distanzunterricht Vorsorge getroffen.“
Dieser habe sich „als Instrumentarium“ bewährt. Im Ausnahmefall sollen demnach Schulleitungen im Austausch mit Lehrern und Schülern darüber entscheiden. Voraussetzungen dafür seien, dass „eine Extremwetterlage besteht oder unmittelbar bevorsteht“; dass „Gründe des Infektionsschutzes auch nach Ausschöpfen aller Möglichkeiten dem entgegenstehen“; oder dass „Lehrerinnen und Lehrer im Einzelfall aufgrund eines epidemischen Infektionsgeschehens nicht im Unterricht in Präsenz eingesetzt werden können, und auch kein Vertretungsunterricht erteilt werden kann“.
„Zu unbestimmt formuliert“
Nach Auffassung von Anna Leisner-Egensperger, Professorin für Öffentliches Recht und Steuerrecht an der Universität Jena, sind diese Kriterien „zu unbestimmt formuliert“. Sie betont auf WELT-Anfrage, es sei problematisch, „Distanzunterricht wegen infektionsbedingten Personalmangels anzuordnen. Denn nach dem Bundesverfassungsgericht gibt das verfassungsrechtlich gewährleistete Recht auf schulische Bildung Schülerinnen und Schülern die Befugnis, die Einhaltung eines für ihre Persönlichkeitsentwicklung unverzichtbaren Mindeststandards von Bildungsleistungen an staatlichen Schulen zu verlangen.“
Distanzunterricht müsse Ultima Ratio bleiben, so Leisner-Egensperger, „denn mit Blick auf die Persönlichkeitsentwicklung junger Menschen leistet Distanzunterricht deutlich weniger als Präsenzunterricht“. Ein Sprecher im Bundesjustizministerium erklärt, im Infektionsschutzgesetz des Bundes sei „Distanzunterricht als Infektionsschutzmaßnahme nicht vorgesehen und auch nicht geplant. Inwieweit eine landesrechtliche Regelung Distanzunterricht ermöglichen kann, lässt sich ohne Kenntnis der beabsichtigten Regelung nicht abschließend beurteilen.“ Die NRW-Verordnung sei dem Bundesjustizministerium nicht bekannt.
Kritik an der Ausgestaltung des Entwurfs gibt es auch in der Opposition: SPD-Fraktionschef Thomas Kutschaty sieht „deutliche Konstruktionsfehler“. Es fehlten „notwendige Leitplanken“, wann Schulen zum Distanzunterricht wechseln können. Es sei etwa offen, ab wie vielen abwesenden Lehrkräften oder erkrankten Schülern der Unterricht wieder digital stattfindet. Dadurch wären Schulleitungen vollständig auf sich allein gestellt, die Verantwortung würde auf sie abgeschoben. Das Schulministerium müsse nachjustieren.
Der schulpolitische Sprecher der FDP-Fraktion, Andreas Pinkwart, sagt: Die Regierung könne die gegebene „Präsenzgarantie“ jetzt „nicht einfach auf andere delegieren. Es ist die vornehmste Aufgabe des Schulministeriums, sicherzustellen, dass unsere Schulen alle Voraussetzungen dafür haben, damit Präsenzunterricht stattfinden kann. Schulschließungen darf es in NRW nicht geben, auch nicht durch die Hintertür einer Verordnung.“ Soweit sich Distanzunterricht nur auf einzelne Schüler, Klassen oder Lehrer aufgrund von Krankheiten oder sonstigen Ausfällen beziehe, halte die FDP es für maßvoll und angemessen.
Die Argumente der Befürworter
Andreas Bartsch, Präsident des Nordrhein-Westfälischen Lehrerverbands, beruhigt die Kritiker: „Die neue Verordnung ermöglicht keine flächendeckenden Schulschließungen aufgrund der Inzidenzzahlen oder der Hospitalisierungsrate wie im letzten Jahr.“ Dass Schulen in regionalen Extremlagen wie bei der Flutkatastrophe im Ahrtal geschlossen werden könnten, habe es auch schon vor und unabhängig von der Pandemie gegeben. „Wenn beispielsweise die Hälfte des Kollegiums erkrankt ist, ist klar, dass kein Präsenzunterricht stattfinden kann“, so Bartsch. Um zu vermeiden, dass diese Situation wieder eintritt, müsse nun alles präventiv getan werden, um sich auf den Herbst und Winter vorzubereiten. Dafür fehle leider immer noch das neue Infektionsschutzgesetz. Bis dieses vorliege, könne die Verordnung nur Empfehlungscharakter haben.
Auch Markus Ogorek, Direktor des Instituts für Öffentliches Recht und Verwaltungslehre an der Universität Köln, stellt noch einmal klar, dass, wenn Schulschließungen ausschließlich zur Eindämmung von Infektionsgefahren erfolgen, dies nur im vom Infektionsschutzgesetz vorgegebenen Rahmen zulässig sei. Die Verordnung interpretiert er so, dass „das Land NRW ausschließlich eine organisatorische Regelung für den Fall treffen wollte, dass infektionsschutzrechtliche Vorgaben des Bundes bestehen“. In diesem Fall solle der Vollzug einer etwaigen Schulschließung direkt durch die Schulleitung erfolgen können und nicht etwa durch die Schulaufsicht. Die rechtliche Absicherung der Einführung des Distanzunterrichts sei „damit im Sinne des Rechts auf Bildung zu begrüßen“.
Entsprechend freut sich auch der Verband Lehrer NRW darüber, dass den Schulen mehr Freiräume zur Erteilung vom Distanzunterricht in Notlagen gegeben würden. Es sei davon auszugehen, dass der Krankenstand in der Corona-Herbstwelle deutlich ansteigen werde und Präsenzunterricht eventuell nicht mehr durchgängig möglich sei. Allerdings enthalte der Entwurf „einige Schwachstellen“. Auch der Verband fordert klare Kriterien und eine „solide Grundlage, um im Fall der Fälle rechtssichere Entscheidungen treffen zu können“.
Der Elternverein NRW lobt: Eine „ähnliche Liberalisierung und damit Individualisierung der Regelungen“ habe der Verein schon von der früheren NRW-Schulministerin erwartet. Die Regelung gebe den Eltern die Möglichkeit zur Mitgestaltung. Die zweite Vorsitzende Regine Schwarzhoff sagt: „Die Verhältnisse sind so verschieden, dass eine generelle Festsetzung an zu vielen Stellen vermeidbare Ausfälle produzieren würde. Es geht ja darum, je nach Alter der Schüler, Personaldecke, Infektionslage, baulich-räumlichen Gegebenheiten und Einschätzung der Gesundheitsämter den Unterricht in maximal möglichem Umfang zu gewährleisten.“
Das nordrhein-westfälische Schulministerium teilt auf Anfrage mit, die Distanzunterrichtsverordnung solle für alle Schulformen und Stufen gelten. Sie sei zunächst bis 2030 befristet. Bis dahin könnten die Schulleitungen also im Bedarfsfall nach den vorgegebenen Kriterien Distanzunterricht einrichten.
Medium: DIE WELT
Datum: 01.09.2022
Autoren: Kristian Frigelj und Benjamin Stibi