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Was Sie jetzt über die Briefwahl wissen müssen

Am Montag werden die ersten Unterlagen verschickt. Welche Auswirkungen könnte das auf das Ergebnis haben? Und wie sicher ist das Verfahren?

 

Experten erwarten, dass der Anteil der Briefwähler bei der Bundestagswahl höher sein wird als je zuvor. Ab Montag werden die ersten Wahlunterlagen verschickt. WELT gibt Antworten auf die wichtigsten Fragen.

Wie funktioniert die Beantragung der Wahl per Brief?
Schon seit einigen Tagen können Wähler die Unterlagen in der Gemeinde ihres Erstwohnsitzes beantragen. Noch vor der Wahlbenachrichtigung kann dies direkt vor Ort geschehen; viele Kommunen ermöglichen es auch online. Andernfalls können Wähler ihre Wahlbenachrichtigung abwarten, die ab dem 16. August verschickt wird. Auf deren Rückseite findet sich ein Vordruck, den man ausgefüllt zurücksenden muss. Laut Bundeswahlleiter finden sich auf manchen Wahlbenachrichtigungen QR-Codes für eine Beantragung. Wer möchte, kann die Unterlagen auch persönlich abholen.

Bis wann ist die Briefwahl möglich?
Sie kann bis zum Freitag vor dem Wahltag beantragt werden. Die Unterlagen müssen jedoch bis zur Schließung der Wahllokale am Sonntag, dem 26. September, eingehen. Stimmzettel, die später eintreffen, werden nicht mehr gezählt. Der Bundeswahlleiter empfiehlt, die Unterlagen „spätestens am dritten Werktag vor der Wahl“ bei der Post abzugeben.

Wie viele Briefwähler könnte es in diesem Jahr geben?
Seit Einführung der Briefwahl 1957 steigt die Quote der Briefwähler konstant an, das zeigen Daten des Bundeswahlleiters. Bei der Bundestagswahl 2017 lag sie bei 28,6 Prozent. Robert Vehrkamp, Demokratie-Experte der Bertelsmann-Stiftung, hätte daher schon ohne Pandemie mit einer Steigerung auf etwa ein Drittel der Gesamtwählerschaft gerechnet. Jetzt geht er sogar von einer Quote von „mindestens 40 Prozent“ aus. Sollte sich die Corona- Infektionslage bis Ende September zuspitzen, könnte sie sogar „über 50 Prozent liegen“. Die jüngsten Landtagswahlen legen nahe, dass es so kommen könnte. So stieg in Baden-Württemberg der Anteil der Briefwähler von 21,1 auf 51,5 Prozent, in Rheinland-Pfalz von 30,6 auf 66,5 Prozent.

Was bedeutet dies für den diesjährigen Wahlkampf?
„Das heißt, dass es ab dieser Woche ernst wird“, sagt Experte Vehrkamp. „Selbst wenn man konservativ rechnet, muss man davon ausgehen, dass vier von zehn Stimmen schon vor und teilweise deutlich vor dem Wahltag abgegeben werden.“ Sichtbar sei es auch an vielen Wahlplakaten. „Fast alle Parteien haben Plakate, die auf die Briefwahl hinweisen“, sagt Vehrkamp.

Welchen Einfluss hätte ein höherer Anteil an Briefwählern auf das Wahlergebnis?
Vor allem für Parteien, die sozial schlechter gestellte und weniger gebildete Wähler ansprechen wollen, könnte sich die Briefwahl negativ auswirken. Die Tatsache, dass man die Briefwahl extra beantragen muss, könnte Robert Vehrkamp zufolge dazu beitragen, dass diese potenziellen Wähler darauf verzichten. Zugleich könne der Gang ins Wahllokal aufgrund von Hygienemaßnahmen immer noch unattraktiv scheinen. „Gut Gebildete und politisch Interessierte wissen hingegen, wie man die Briefwahl beantragen muss und kümmern sich auch eher darum“, sagt Vehrkamp. Bereits bei den Wahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz habe sich eine solche vertiefte „soziale Spaltung“ gezeigt. Profitieren könnten laut Vehrkamp vor allem die Unionsparteien, die FDP und die Grünen, da sie Briefwähler besonders gut mobilisierten. „Die SPD hingegen weiß, wieso sie ihr Klientel auf Wahlplakaten besonders auf die Briefwahl hinweist. Gerade ihr fällt es schwer, Wähler über die Briefwahl zu mobilisieren.“ Auch Anhänger der Linken oder der AfD seien eher „briefwahlscheu“.

Warum ist die Briefwahl verfassungsrechtlich umstritten?
Erst seit 1957 darf der Bundestag per Brief gewählt werden. Damit sollte sichergestellt werden, dass auch Kranke, Urlauber oder Sonntagsarbeiter wählen können. Bis heute gilt Verfassungsrechtlern die Urnenwahl als Leitbild. Die Briefwahl soll eine Ausnahme sein, weshalb die Unterlagen gesondert beantragt werden müssen. Grund hierfür ist, dass die Wahl frei und geheim sein soll. Der Bundeswahlleiter fordert Briefwähler dazu auf, „persönlich und unbeobachtet“ ihr Kreuz zu machen. Anders als im Wahllokal könne der Staat bei der Briefwahl jedoch nicht kontrollieren, ob die Stimmabgabe tatsächlich so abläuft, meint Markus Ogorek, Verfassungsrechtler von der Universität zu Köln. „Es ist durchaus vorstellbar, dass die Familie sich am Küchentisch versammelt und der Vater die Briefunterlagen in seinem Sinne ausfüllt“, sagt Ogorek. Daneben sei die Wahl zu Hause nicht öffentlich – obwohl alle wesentlichen Schritte der Wahl eigentlich einer öffentlichen Kontrolle unterliegen müssen, um Vertrauen in ihren ordnungsgemäßen Ablauf zu erzeugen. Eine ausschließliche Briefwahl ist mit daher dem aktuell geltenden Wahlrecht daher nicht vereinbar. „Solange die Briefwahl jedoch eine Ausnahme bleibt, ist sie verfassungsrechtlich wenig angreifbar“, so der Juraprofessor. Wenn in diesem Jahr tatsächlich die Hälfte der Wähler per Brief wählt, könnte das jedoch einen „Paradigmenwechsel“ einläuten. „Momentan sieht das Bundesverfassungsgericht die repräsentative Demokratie primär durch die Urnenwahl verwirklicht“, so Ogorek. „Das ist aber nicht in Stein gemeißelt.

Wie manipulationsanfällig ist die Wahl per Brief?
Gänzlich manipulationsfrei ist laut Demokratie-Experte Vehrkamp weder die Brief- noch die Urnenwahl. Im Einzelfall könne es zudem bei beiden Wahlformen zu Missbrauch kommen. Dennoch teilt der Bundeswahlleiter mit: „Eine Manipulation des Wahlergebnisses durch einen Missbrauch der Briefwahl kann ausgeschlossen werden.“ Seit deren Einführung gebe es „keine Anhaltspunkte für Unregelmäßigkeiten in einem Ausmaß, dass sie das Wahlergebnis beeinflussen könnten.“

Wie sicher ist diese Art der Stimmabgabe vor nicht fristgerechtem Eingang oder nachträglicher Fälschung?
Nachdem bei Kommunalwahlen in der Vergangenheit bereits Briefkästen überquollen und Wahlunterlagen auf der Straße lagen, bereite sich die Post auf ein erhöhtes Briefaufkommen vor. Ein Einfallstor für Fälschungen ist laut Experten höchstens die Lagerung der Briefwahlunterlagen in den Rathäusern. Laut Bundeswahlleiter sind die zuständigen Stellen gesetzlich verpflichtet, „die Wahlbriefe ungeöffnet“ zu sammeln und „unter Verschluss“ zu halten.
 

Medium: DIE WELT
Datum: 16.08.2021
Autorin: Anna Parrisius