zum Inhalt springen

Warum es richtig ist, dass der Verfassungsschutz die AfD anprangert

Die wehrhafte Demokratie braucht Institutionen, die sie verteidigen. Für den Schutz der Verfassung ist allerdings auch jeder einzelne Bürger zuständig.

 

Verfassungsschutzpräsident Thomas Haldenwang hat mehrfach vor rechtsextremistischen Strömungen in der AfD gewarnt. Dafür ist er scharf kritisiert worden, nicht nur von der AfD selbst. Hinter diesem Streit steht eine grundsätzliche Frage: Wie soll der Rechtsstaat mit einer Partei umgehen, die als extremistischer Verdachtsfall eingestuft ist, und von der sich dennoch zahlreiche Menschen repräsentiert fühlen?

Wirft man einen Blick auf die Entwicklung der AfD, muss man konstatieren, dass sie sich seit ihrer Gründung immer weiter radikalisiert hat. Inzwischen werden Menschen mit Zuwanderungsgeschichte regelmäßig durch Repräsentanten der AfD verächtlich gemacht und damit zumindest indirekt in ihrer Menschenwürde angegriffen.

Beleidigungen und Drohungen

In der gesamten Partei findet zum Beispiel die Vorstellung vom »ethnischen« Erhalt des deutschen Volkes Resonanz, etwa bei dem jüngst gekürten Europa-Spitzenkandidaten Maximilian Krah. Auch Erzählungen wie die Mär vom »Großen Austausch« stoßen in der AfD auf Zuspruch. Der thüringische Landeschef Björn Höcke glaubte schon vor Jahren, den »Verwesungsgeruch einer absterbenden Demokratie« wahrnehmen zu können, und der sächsische Parteivorsitzende Jörg Urban forderte, das derzeitige »Regime« mithilfe der »vernünftig denkenden Menschen zum Einsturz« zu bringen. Andere AfD-Vertreter bezeichneten Akteure der etablierten Parteien als »Parasiten« oder »Volksfeinde«. Die Aufzählung ließe sich unschwer fortsetzen. Dies belegt: Der AfD geht es nicht um eine inhaltliche Diskussion, sondern darum, das Vertrauen der Bevölkerung in den Staat zu untergraben.

Harter Kern von Rechtsextremen

Diese Strategie scheint bei erstaunlich vielen Deutschen zu verfangen. Dafür lassen sich im Wesentlichen zwei Gründe ausmachen. Viele Anhänger stehen zweifellos aus tief verwurzelter ideologischer Überzeugung zur AfD. Diese Personengruppe ist – nicht ausnahmslos und in jeder Hinsicht, aber doch in ihrer Gesamtheit – außerordentlich rassistisch, vielfach homophob und bisweilen antisemitisch. Solche Einstellungen waren und sind in Deutschland wie in anderen Staaten seit jeher vorhanden. Dass sie in der Nachkriegszeit lange nur hinter vorgehaltener Hand artikuliert wurden, dürfte ein singuläres, historisch erklärbares Phänomen darstellen.

Die viel beschworene »Mitte der Gesellschaft« war allerdings nie immun gegenüber Fremdenfeindlichkeit und diskriminierenden Narrativen – es fehlte bis zur Etablierung der heutigen AfD lediglich an einer geeigneten Plattform, um sich hinter bürgerlicher Fassade offen zu den eigenen Vorurteilen bekennen zu können. Wer so gesinnt ist, wird jede staatliche Intervention als bloße Bestätigung des eigenen Weltbildes begreifen.

Zukunftsängste anerkennen

Sollten wir also resignieren, weil Appelle an Moral und Bürgersinn ohnehin ungehört verhallen? Die Antwort lautet Nein. Es gibt Personen im Umfeld der Partei, die sich noch erreichen lassen – die sogenannten Protestwähler. Sie meinen, Einfluss auf die Politik nur noch nehmen zu können, indem sie den anderen Parteien durch die Wahl der AfD einen »Denkzettel« verpassen. Hierbei handelt sich um keine kleine Gruppe, sondern um mehrere Millionen Bürger.

Es wäre falsch und ehrenrührig, sie pauschal als Nazis zu diffamieren. In einer Zeit, in der auf unserem Kontinent wieder Krieg geführt wird, die Gesellschaft eine für die Freiheitsrechte fordernde Pandemie durchlebt hat und sich das Land in einer Rezession befindet, sind Zukunftsängste nachvollziehbar. Jeder hat das Recht, mit der eigenen Regierung unzufrieden zu sein und dies lautstark zu äußern.

Auf der anderen Seite kann jede Stimme, die Extremisten in parlamentarische oder Regierungsverantwortung bringt, den Rechtsstaat nachhaltig schwächen. Wer das achselzuckend abtut, weil ihm ein Zeichen gegen das Tempo der Energiewende oder die Zahl der aufgenommenen Geflüchteten wichtiger erscheint, muss sich vorhalten lassen, das brandgefährliche Treiben der Rechtsextremen zu unterstützen. Inzwischen ist weit in bildungsbürgerliche sowie wirtschaftlich erfolgreiche Milieus hinein eine alarmierende Fokussierung auf die Sicherung des eigenen Lebensstandards zu beobachten, selbst wenn dies um den Preis von Minderheitenrechten und ökologischer Zukunft geschieht.

Demokraten braucht das Land

In jüngster Zeit ist in diesem Kontext vermehrt darauf hingewiesen worden, dass die Weimarer Republik nicht durch eine blutige Revolution, sondern durch gewählte Extremisten zu Fall kam, die auch durch weite Teile des Bürgertums unterstützt wurden. Richtig ist, dass bedeutsame Unterschiede in der politischen Sozialisation der damaligen und heutigen Gesellschaft zu erkennen sind. Die erste deutsche Demokratie genoss von Anfang an nur bedingt gesellschaftlichen Rückhalt. Sie stand bis zu ihrem Ende im Schatten des vermeintlich im Felde unbesiegten Kaiserreichs.

Geschichte wiederholt sich nicht, das Schicksal von »Weimar« sollte uns dennoch eine Mahnung sein: Die Nationalsozialisten konnten 1933 nicht zuletzt deshalb die Macht ergreifen, weil zu viele Deutsche der Demokratie gegenüber indifferent waren. Hier schließt sich der Kreis zu den heutigen Protestwählern. Obwohl die AfD nicht mit der NSDAP gleichzusetzen ist, gaben und geben damals wie heute viele Menschen Extremisten ihre Stimme, um ihre Unzufriedenheit zu artikulieren – seinerzeit in Reaktion auf die Folgen der Wirtschaftskrise wie Arbeitslosigkeit und Armut, heute in einem trotz vieler Herausforderungen wohlhabenden und sicheren Deutschland.

Wehrhafte Staatsordnung

Die Väter und Mütter des Grundgesetzes waren sich sehr bewusst, wie anfällig ihr Volk für radikale Versprechungen sein kann. Aus diesem Grund entschieden sie, das Format der »wehrhaften Demokratie« zu etablieren. So ist die Verfassung partiell selbst dem Zugriff des Gesetzgebers entzogen, können fundamentale Prinzipien wie die Menschenwürde doch niemals abgeschafft werden.

Zudem kann selbst die richterliche Unabhängigkeit zum Schutze der Demokratie Einschränkungen erfahren, wie der frühere AfD-Bundestagsabgeordnete Jens Maier erfahren musste. Er wurde 2022 durch andere unabhängige Richter in den Ruhestand versetzt, um eine mit seiner drohenden Rückkehr in die Justiz verbundene »schwere Beeinträchtigung der Rechtspflege abzuwenden«. Das noch laufende Verfahren gegen eine weitere ehemalige Parlamentarierin der Partei, die zuvor als Richterin tätig gewesen war und sich inzwischen als Teil der »Gruppe Reuß« in Haft befindet, belegt die Anfälligkeit aller staatlichen Bereiche für Extremismus.

Einzigartiges Frühwarnsystem

Da radikale Gesinnungen, sofern sie sich nicht in konkreten Straftaten niederschlagen, in Deutschland aus guten Gründen nicht strafbar sind, schuf man das neuartige Konzept des Verfassungsschutzes. Anders als man es bei einem Nachrichtendienst vermuten würde, agiert dieser nicht nur im Verborgenen, sondern soll vielmehr in die Gesellschaft wirken und Bedrohungen für das freiheitliche System offensiv beim Namen nennen. Nicht nur aus dem Lager der AfD wird deshalb kritisiert, der Verfassungsschutz nehme im internationalen Vergleich eine Sonderrolle ein. So zutreffend diese Erkenntnis sein mag, so wenig ist sie Ausdruck einer ungewollten oder gar bedenklichen Entwicklung. Es ist gerade Konzept unserer »wehrhaften Demokratie«, dass der Staat auch nicht gewalttätige Extremisten beobachten und vor ihnen warnen darf.

Zur Wahrheit gehört allerdings: Das Bundesverfassungsschutzgesetz macht keine Vorgaben dazu, in welcher Form und Intensität diese Öffentlichkeitsarbeit zulässig ist. Es wundert daher nicht, dass einige Kommentatoren meinen, der Verfassungsschutzpräsident überschreite die Grenzen seines Amtes, wenn er mitunter mehrfach pro Woche in Zeitungen oder Fernsehsendungen vehement Stellung bezieht. Obwohl nur die Gerichte letztverbindlich über die Zulässigkeit dieser Äußerungen befinden können, sprechen für das Vorgehen Haldenwangs doch gewichtige Argumente.

Gefährliche Verbindungen

So kann sich der Verfassungsschutz auf bereits vorliegende Urteile zur Einstufung der AfD und ihrer Untergliederungen stützen, in denen die Justiz erhebliche Zweifel an deren Verfassungstreue formulierte. Zudem sind immer stärkere Kontakte zur »Neuen Rechten« zu beobachten, im Einzelfall sogar zu rechtsextremistischen Gewalttätern wie dem Mörder von Regierungspräsident Walter Lübcke. Nicht zuletzt geben die guten Verbindungen der Partei zum russischen Regime Anlass zu starker Sorge – ob im Falle der AfD-nahen mutmaßlichen Spione bei BND und Bundeswehr oder hinsichtlich enger Kontakte von AfD-Kadern zu Akteuren im Umfeld russischer Nachrichtendienste.

Der Verfassungsschutz muss deshalb nicht nur genau hinschauen, ob die AfD weiter in den Extremismus abgleitet, sondern auch, ob sich hier eine deutsche Partei zum verlängerten Arm Moskaus entwickelt. Wenn Haldenwang also lautstark klagt, dann weil es auch viel zu beklagen gibt.

Thematisieren oder totschweigen?

Schließlich drängt sich die Frage auf, ob es sinnvoll ist, die AfD zu verbieten. Sie wäre leicht mit Ja zu beantworten, wenn sich damit die von vielen ihrer Repräsentanten vertretene menschenfeindliche Ideologie aus der Welt schaffen ließe. Das Problem ist aber nicht (nur) die Partei. Es geht vor allem um Menschen, die sich inzwischen nicht mehr von den etablierten Parteien repräsentiert fühlen und deshalb ihre Stimme Kräften schenken, denen sie oftmals nicht einmal selbst zutrauen, die politischen Herausforderungen zu lösen.

Die Debatte über ein Parteiverbot hilft folglich nur der AfD, lenkt sie doch von deren politischer Schwäche ab und macht es ihr leichter, sich als Opfer zu inszenieren. Obwohl von einigen Nichtregierungsorganisationen gefordert, denkt daher zurzeit auch keines der antragsberechtigten Verfassungsorgane (Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung) ernsthaft daran, ein Verbotsverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht einzuleiten

Antidemokratische Kräfte müssen stattdessen als solche entlarvt werden und etablierte Parteien vor allem durch bessere Kommunikation überzeugen. In einer Zeit von Umbrüchen brauchen Menschen aller politischen Richtungen Sicherheit und Vertrauen in die politisch Verantwortlichen. Beides kann nicht entstehen, wenn eine Regierungskoalition sich medienwirksam selbst demontiert.

Umgekehrt sind die Parteien auf den Rückhalt aller Demokraten angewiesen, ganz gleich, ob sie strikt konservativ oder eindeutig links orientiert sind. Mit anderen Worten: Verfassungsschutz ist nicht allein eine staatliche, sondern gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Die Gelegenheit, die Verfassung auf diese Weise zu schützen, bietet sich für jeden in vielfältiger Weise. In Gesprächen mit Familie und Freunden, am Arbeitsplatz sowie in Schulen und Universitäten. Und nicht zuletzt: an der Wahlurne.
 

Medium: DER SPIEGEL
Datum: 30.08.2023
Autor: Markus Ogorek (Gastbeitrag)