Vor einigen Wochen hat das Düsseldorfer Wissenschaftsressort eine Novellierung des Hochschulgesetzes eingeleitet. Besonders durch Anpassungen im Disziplinarverfahren für Dozenten und Forscher sowie durch die Einführung eines spezifisch auf den akademischen Betrieb zugeschnittenen Sicherungsverfahrens wolle das Land eine Vorreiterstellung einnehmen, verkündete Ina Brandes (CDU), Ministerin für Kultur und Wissenschaft. Kritiker halten ihr nun entgegen, sie wolle die Professorenschaft an die „Kandare eines Verdachtsdisziplinarrechts“ legen. Mancher sprach gar von drohender „Paralleljustiz“. Wie kann es in einem traditionell nachdenklichen Umfeld zu solchen Vorwürfen kommen?
Demonstrationen an Hochschulen
Mitte Januar 2023 steht eine Gruppe junger Menschen vor dem Eingangsportal der Kölner Universität. „Null Toleranz“ heißt es auf Transparenten der rund 50 Demonstranten, die „sexualisierte Gewalt“ und „Machtmissbrauch“ im Hochschulbetrieb beklagen. Wenige Hundert Meter weiter sitzen in einem Konferenzraum die Autoren dieses Textes gemeinsam mit Vertretern der Medien, die Antworten von der Universitätsleitung verlangen. Kurz zuvor hatte der „Spiegel“ in einem vielbeachteten Stück von einem Professor berichtet, der Doktorandinnen erniedrigt haben soll. Bis heute wisse sie nicht, ob und wie ein Disziplinarverfahren gegen den Wissenschaftler geführt worden sei, beklagt eine der Protestierenden nach der Pressekonferenz.
Kein Wunder. Denn anders als etwa in Strafsachen, bei denen die Pressesprecher der Justiz das Informationsinteresse der Öffentlichkeit mit den schutzwürdigen Belangen des Beschuldigten abwägen dürfen, kann nach nordrhein-westfälischem Disziplinarrecht nicht einmal mitgeteilt werden, ob überhaupt in einer Sache ermittelt wird. Dass viele Medien im Nachgang von einer „Verweigerungshaltung“ sprechen und Aktivisten davon, es werde doch „alles vertuscht“, ist schlichtweg der geltenden Rechtslage geschuldet.
Angstklima und Avancen
Es ließen sich viele vergleichbare Medienberichte anführen, vor allem an den zahlreichen Hochschulen des einwohnerstärksten Bundeslandes. Da ist etwa die Geschichte einer angesehenen Hochschullehrerin, die ein solches „Klima der Angst“ erzeugt haben soll, dass immer wieder Beschäftigte zusammenbrachen. Oder der Fall eines vergleichsweise jungen Dozenten, der Studenten zu sich nach Hause eingeladen und dort mehrfach aufgefordert haben soll, die Brust freizumachen. Auch aus anderen Teilen Deutschlands lassen sich leicht Dutzende Meldungen von sexuellen Übergriffen durch Dozenten finden.
Obgleich natürlich nicht jeder Vorwurf stichhaltig ist, verdeutlicht diese Entwicklung: Die Hochschulen in NRW befinden sich mit Blick auf ihre Schutzpflichten in einer prekären Lage. Nach Wahrnehmung einiger der beteiligten Justiziariate und von manchem Mitglied einer Disziplinarkammer machen die bisherigen Instrumente zudem vergleichsweise wenig Eindruck auf jene, gegen die nach langen Ermittlungen überhaupt Sanktionen ausgesprochen werden können.
Das akademische Machtgefälle
Verhält sich ein Kollege oder auch ein Dienstvorgesetzter in einer typischen Behörde falsch, kann der Betroffene unter geringen Hürden Schritte veranlassen, ohne dass dem besondere Abhängigkeiten entgegenstünden. Erweist es sich im Rahmen der Ermittlungen, dass ein Pflichtenverstoß vorlag, sind die Folgen oft weitreichend. Dies betrifft mitunter nicht einmal die Disziplinarmaßnahme selbst – gestaffelt vom Verweis über die Geldbuße, die Kürzung der Dienstbezüge und die Zurückstufung bis zur Entfernung aus dem Dienstverhältnis. Gerade bei den niedrigeren Sanktionsstufen sind es vielmehr mittelbare Effekte, wenn etwa eine Versetzung erfolgt oder eine Beförderung ausbleibt.
Die Realität in den Hochschulen unterscheidet sich hiervon grundlegend. Zum einen hinsichtlich der Beschäftigungsverhältnisse, weil die studentischen und wissenschaftlichen Mitarbeiter typischerweise zu Qualifikationszwecken an der Universität tätig sind – und wohl jeder weiß, wie leicht sich insbesondere größere Forschungsarbeiten fördern oder ausbremsen lassen. Zum anderen ist aber auch das Verhältnis zwischen Studenten und Dozenten regelmäßig viel enger und begründet deutlich umfangreichere Abhängigkeiten, als dies etwa bei Sachbearbeitern einer Behörde gegenüber Bürgern der Fall ist. Verschärfend wirken an Hochschulen die häufig großen Altersunterschiede.
Wissenschaftsfreiheit ist kein Freibrief
Durch die verfassungsrechtliche Garantie der Wissenschaftsfreiheit fehlt es den akademischen Leitungspersonen nicht zuletzt an einer sie eng führenden Instanz, wie sie im Behördenalltag üblich ist. Im Grundsatz ist das völlig unproblematisch. Erwägungen von maximaler Effizienz oder Konformität sollen gerade nicht auf den akademischen Betrieb ausstrahlen – weil das Streben nach objektiver Wahrheit und Erkenntnis ein hohes Maß an Selbstbestimmtheit erfordert.
Diese Freiheit wird jedoch dann zur Gefahr, wenn Wissenschaftler sie missbrauchen. Dabei geht es nicht darum, aus den beschriebenen Geschehnissen (und der sicherlich hohen Dunkelziffer gleichartiger Fälle) einen Pauschalverdacht abzuleiten. Jene ganz überwiegende Gruppe von Forschern und Dozenten, die sich jeden Tag engagiert der Ausbildung des akademischen Nachwuchses widmen, darf aber nicht blind sein für die spezifischen Risiken im Hochschulbetrieb.
Mit Blick auf die bereits angesprochenen Instrumente des Disziplinarrechts bedeutet das konkret: Der Verweis wird besonders einen W3-Professor kaum stören, auch Geldbuße und Kürzung der Dienstbezüge sind auf die monetären Auswirkungen beschränkt. Eine Zurückstufung scheidet für Hochschullehrer sogar aus, da sie keiner klassischen Aufstiegslaufbahn angehören. Angesichts dessen will NRW nun höhere Sätze bei den finanziellen Sanktionen anlegen und eine Zurückstufung (beispielsweise von W3 auf W2) ebenfalls bei Hochschullehrern ermöglichen, wie es etwa in Niedersachsen schon heute Rechtslage ist. Im Lichte dessen, dass in letzterer Konstellation derzeit entweder nur eine zu geringe Konsequenz möglich ist oder aber allzu leicht über die Dienstentfernung nachgedacht wird, erscheint dieser Ansatz durchaus naheliegend.
Besonders wichtig sind indes jene Reformpunkte, die das Disziplinarverfahren an Hochschulen zugunsten der Geschädigten von Übergriffen verbessern sollen. Dazu zählt die Möglichkeit für jene Personen, über den Fortgang des Verfahrens informiert zu werden und ihnen einen Beistand zur Seite zu stellen. Auch die Öffentlichkeitsarbeit soll gelockert und einer Abwägung wie im bereits angesprochenen Strafverfahren zugänglich gemacht werden. Zudem sollen die Fakultäten Geschädigten ermöglichen, ihre Promotion unter anderer Betreuung fortzusetzen. Bei der Erarbeitung seiner Überlegungen hatte das Wissenschaftsressort im Vorfeld verschiedene Akteure kontaktiert, die ihre Eindrücke teilen und Empfehlungen unterbreiten sollten; darunter die Verfasser dieser Zeilen.
So weit, so gut?
Die angedachten Anpassungen des hochschulischen Disziplinarverfahrens werden Lücken schließen. Mit Blick auf die zugrunde liegenden Fälle von Machtmissbrauch beantworten sie allein aber nicht die Frage, wie man Geschädigte besser vor Folgegefährdungen schützen kann. Darauf zielende Maßnahmen, die etwa die Aufhebung der Direktionsbefugnis gegenüber Lehrstuhlmitarbeitern betreffen, werden bislang häufig als gewöhnliche beamtenrechtliche Weisung erlassen. Dieses rechtlich wackelige Vorgehen wird weder den diskutierten Schutzbedarfen noch – hinsichtlich der Vorhersehbarkeit drohender Maßnahmen – den Belangen der Beschuldigten gerecht.
Vor diesem Hintergrund hat sich das Wissenschaftsministerium entschlossen, neben das Disziplinar- ein universitätsspezifisches Sicherungsverfahren zu stellen, über dessen Einführung die Hochschulen selbst entscheiden. Hierdurch sollen Schritte ermöglicht werden, die tatsächlich dazu geeignet sind, Gefährdungen im Universitätsbetrieb auszuräumen. Dazu zählen etwa Ge- oder Verbote für Kontaktaufnahmen, Betretungsverbote, Verpflichtungen zur Onlinelehre oder der Entzug einer Lehr- und Prüfungsbefugnis.
Es steht außer Frage, dass dies gravierende, teils überaus einschneidende Eingriffe sind. Die schon heute mögliche Entfernung aus dem Dienstverhältnis stellt aber unzweifelhaft eine noch (viel) stärkere Belastung dar. Und wenn das geplante Sicherungsrecht auf Festlegungen verzichtet, wann genau welches Instrument gewählt werden darf, entspricht es damit der Regelungstechnik des richterrechtlich geprägten Disziplinarrechts.
Keine niedrigeren Eingriffsschwellen
Besonders laute Kritik hat sich an den Schwellen festgemacht, die eine Einleitung des Sicherungsverfahrens ermöglichen und vermeintlich gegenüber dem Disziplinarwesen abgesenkt sein sollen. Maßgeblicher Anknüpfungspunkt im Disziplinarrecht ist seit jeher das Dienstvergehen als schuldhafte Verletzung von Dienstpflichten. An ebendieses knüpft in einer Alternative auch das neue Verfahren an, grenzt den Anwendungsbereich aber noch weiter ein. So kommen nur solche (bestehenden) Dienstpflichten in Betracht, die sich – beispielsweise – auf die körperliche Unversehrtheit oder den zugegebenermaßen weit formulierten sozialen Geltungsanspruch beziehen.
In seiner zweiten Alternative will der Gesetzentwurf die Verfahrenseinleitung zudem bei Verstößen gegen Verhaltensregeln gestatten, die sich die Hochschulen zur Vermeidung von Machtmissbrauch geben müssen. Angesichts dessen besteht die Sorge bei manchen Kollegen, hierdurch solle eine Absenkung der Hürden unter den bisherigen Anknüpfungspunkt der Pflichtverletzung ermöglicht werden. Auch wenn diese Befürchtung wohl lediglich auf einer missverständlichen Formulierung beruht, sollte Ministerin Brandes unbedingt klarstellen, dass die Verhaltensregeln nur herangezogen werden dürfen, wenn in ihr zulässige Dienstpflichten nach den hergebrachten Grundsätzen konkretisiert werden.
An anderer Stelle gibt es ebenfalls noch Anpassungsbedarf. Dies betrifft etwa die bislang unberücksichtigte Idee, an Hochschulen ausnahmsweise von der – bislang starren –Einleitung des Disziplinar- (und künftig auch Sicherungs-)verfahrens absehen zu dürfen, wenn dies nach Abwägung zwischen Opferbelangen und Verfolgungsbedarfen geboten erscheint. Ferner wird zu diskutieren sein, ob tatsächlich so viel Organisationsbezogenes zum Sicherungsverfahren dezentral durch die Hochschulen normiert werden sollte, wie es der Entwurf vorsieht.
Und schließlich ist es zwar im Ansatz richtig, Sicherungsmaßnahmen ihres präventiven Charakters wegen auch vorläufig anordnen zu können, wenn tatsächliche Anhaltspunkte für ein Fehlverhalten vorliegen. Der auf Maßnahmenseite vorgesehene Katalog könnte derzeit aber noch etwas zu weit gehen, indem sogar ein vollständiges Lehr- und Prüfungsverbot verhängt werden kann. Hier schiene es aus Verhältnismäßigkeitsgründen nicht unklug, einen solch grundrechtsinvasiven vorläufigen Ausspruch nur (zum Beispiel auf bestimmte Studenten oder Formate) begrenzt zuzulassen.
Steiniger Weg für ein wichtiges Ziel
Die allermeiste Kritik an dem neuen Modell verfängt jedoch nur auf den ersten Blick. Dies gilt neben dem Erwähnten etwa beim Vorwurf, das Sicherungsverfahren schaffe einen „monströsen administrativen Aufwand“. Tatsächlich sind sowohl ein weitgehender Gleichlauf zum Disziplinarwesen als auch Übernahmemöglichkeiten für getroffene Feststellungen vorgesehen. Fernliegend ist erst recht die Befürchtung, in NRW solle künftig eine „Hochschulpolizei“ eingeführt werden, um Sicherungsverstöße zu ermitteln – ganz so, als hätten die Universitäten bei Disziplinarsachen bislang den Notruf wählen müssen. Erfreulich ist schließlich, dass der Entwurf ausdrücklich klarstellt, beim Zusammenfallen beider Verfahren dürfe es nicht zu einer überhöhten Gesamteinwirkung auf den Beschuldigten kommen.
Zusammenfassend hat die Debatte gezeigt, wie sensibel die Wissenschaftscommunity hierzulande auf (scheinbare) Bedrohungen ihrer Freiheiten reagiert. Angesichts der Zunahme autoritärer Bestrebungen weltweit ist das nur verständlich. Bisweilen wäre es aber sicherlich der Sache dienlich, weniger konfrontativ aufzutreten. Bei aller Aufregung wird man ausgerechnet einer CDU-geführten Regierung kaum unterstellen können, der vermeintlichen „Wokeness-Kultur“ im grundrechtsgeschützten Universitätsbetrieb Vorschub zu leisten. Das Wissenschaftsministerium und später der Landtag in NRW sind nun gehalten, die vielfältigen Anregungen aufzunehmen und klug umzusetzen. Dabei darf nicht aus dem Blick geraten, welch ernsten und beschämenden Anlass die Reformpläne haben.
Medium: Frankfurter Allgemeine Zeitung
Datum: 24.01.2025
Autoren: Markus Ogorek und Luca Manns (Gastbeitrag)