Herr Ogorek, die Briefwahl war ursprünglich als Ausnahmefall gedacht. Jetzt macht womöglich eine Mehrheit davon Gebrauch. Ist das ein Problem?
Sie haben recht – die Urnenwahl ist der gesetzlich vorgesehene Regelfall. Bei der anstehenden Bundestagswahl werden wohl 40 bis 50 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimmen per Brief abgeben. Das ist mit Blick auf die Verfassungsbestimmungen zum Wahlrecht ein Problem, weil einzelne Wahlgrundsätze in einem Spannungsverhältnis zur Briefwahl stehen.
Worum geht es da?
Betroffen sind die Grundsätze der freien und geheimen Wahl sowie der Öffentlichkeit der Wahl.
Gab es in der Praxis jemals Grund anzunehmen, dass diese Prinzipien durch die Briefwahl ausgehebelt werden?
Hier müssen wir genau unterscheiden. Wie auch in den Vereinigten Staaten wird über die Frage diskutiert, ob die Briefwahl sicher ist. Und das ist sie – denn es gibt keine stichhaltigen Anhaltspunkte dafür, dass diese Art der Stimmabgabe in Deutschland besonders anfällig für Wahlbetrug wäre. Hiervon zu unterscheiden ist die verfassungsrechtliche Diskussion über die Wahlrechtsgrundsätze. Diese sind bei der Briefwahl nicht immer in Reinform verwirklicht.
Was meinen Sie da genau?
Der Grundsatz der freien Wahl besagt, dass jeder Wähler unbeeinflusst sein muss. Das lässt sich das bei der Briefwahl anders als im Wahllokal staatlicherseits nicht kontrollieren. Dasselbe gilt für die Geheimheit der Wahl. Der Wahlleiter weiß nicht, wer am Küchentisch wem über die Schulter schaut, wenn die Stimmzettel ausgefüllt werden. Den Grundsatz der Öffentlichkeit der Wahl werden Sie im Grundgesetz nicht ausdrücklich finden. Das ist eine Erfindung des Bundesverfassungsgerichts. Es geht darum, dass alle wesentlichen Schritte der Wahl einer öffentlichen Kontrolle unterliegen müssen, um Vertrauen in den ordnungsgemäßen Ablauf zu sichern. Diese öffentliche Kontrolle ist in den eigenen vier Wänden nicht zu gewährleisten. Die Briefwahl ist dennoch verfassungsgemäß, weil sie dazu beiträgt, dass möglichst viele Menschen wählen können. Sie fördert die Allgemeinheit der Wahl. Auch das ist ein wichtiger Wahlgrundsatz und hat Verfassungsrang.
Gibt es eine bestimmte Größenordnung mit Blick auf den Anteil der Briefwähler, bei der die Verfassungsrichter einschreiten würden?
Das Bundesverfassungsgericht hat bisher stets den Ausnahmecharakter der Briefwahl betont, also jedenfalls eine Quote unter 50 Prozent. Ich denke allerdings, dass die Karlsruher Richter in Zeiten einer Pandemie, in der sich manche Wähler um ihre Gesundheit sorgen müssen, im Zweifel sehr stark den Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl betonen werden. Demokratien sind auf eine möglichst hohe Wahlbeteiligung angewiesen, weil sonst die Legitimation der Wahl leiden könnte. Vor dem Hintergrund glaube ich nicht, dass etwaige Wahlanfechtungen Erfolg hätten. Ob das auch für die Zeit nach der Pandemie gilt, kann letztverbindlich nur das Verfassungsgericht entscheiden.
Medium: Stuttgarter Zeitung
Datum: 20.09.2021
Autor: Armin Käfer