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Staatsrechtler kritisiert Wahl-Chaos in Berlin

Der Staatsrechtler Markus Ogorek mahnt Konsequenzen aus dem Berliner Wahl-Chaos an. Großveranstaltungen, die mit wichtigen Wahltagen kollidieren könnten, sollten künftig nur unter Vorbehalt genehmigt werden. In Berlin sorgte die Marathon-Ausrichtung für Kritik. So erwies sich die Nachlieferung von Wahlzetteln wegen der Straßensperrungen als sehr problematisch.

 

Herr Professor Ogorek, wie nun bekannt wurde, sind in einem Berliner Bezirk die Ergebnisse nur „geschätzt” worden. Eine merkwürdige Art auszuzählen, oder?

Markus Ogorek: Ja, das muss man ganz klar festhalten. Es versteht sich eigentlich von selbst, dass Schätzungen nicht geeignet sind, den Anforderungen des Wahlrechts zu entsprechen. Demnach ist es immer erforderlich, die konkrete Zahl der abgegebenen Stimmen sowie ihre Aufteilung auf die einzelnen Wahlvorschläge einschließlich der für ungültig befundenen Stimmen festzustellen. Die Kreiswahlausschüsse und nötigenfalls der Landeswahlausschuss von Berlin sind nun in der Pflicht, korrekte Ergebnisse schnellstmöglich zu veröffentlichen.
 

Zudem gibt es eine auffällig hohe Zahl ungültiger Stimmzettel in 99 Wahlbezirken der Hauptstadt.

Ogorek: Es scheint in mehreren Fällen zu organisatorischen Fehlern der Wahlvorstände gekommen zu sein. Oftmals, und so offenbar auch in diesem Fall, sind falsch ausgegebene Stimmzettel das Problem – etwa solche eines Nachbarwahlkreises. In einem Bremer Wahlkreis ist dieses Malheur am vergangenen Sonntag ebenfalls aufgetreten. Den einzelnen Wahlhelfern würde ich keine großen Vorwürfe machen: Sie haben versucht, spontan zu retten, was nicht mehr gänzlich zu retten war.
 

Was droht, wenn falsche Stimmzettel ausgeben werden – sind dann alle Stimmen ungültig?

Ogorek: Das Zweitstimmenergebnis kann zumeist noch gewertet werden, da auf dem korrekten Stimmzettel die identischen Parteien vermerkt sind. In allen Berliner Wahlkreisen haben sich logischerweise dieselben Parteien zur Wahl für den Bundestag und das Abgeordnetenhaus gestellt. Anders liegen die Dinge bei den Erststimmen. Wird auf einem falschen Stimmzettel eine Person „gewählt“, die in dem betreffenden Gebiet schlichtweg nicht zur Wahl steht, sind diese Stimmen tatsächlich allesamt als ungültig anzusehen.
 

Viele Menschen haben nicht gewählt, weil sie nicht länger auf das Eintreffen neuer Stimmzettel warten wollten oder konnten. Lägen darin vielleicht Gründe, die eine Wiederholung der Wahlen in Berlin erforderlich machen?

Ogorek: Der Ablauf der Wahlen in Berlin war ganz sicher außerordentlich unglücklich. Schließlich verlangt der Verfassungsgrundsatz der „allgemeinen Wahl", dass möglichst viele Bürgerinnen und Bürger möglichst einfach ihr Kreuz machen können. Mein Berliner Kollege, der Staatsrechtler Christian Waldhoff, hat in den vergangenen Tagen zurecht darauf hingewiesen: Wenn Wahlvorstände Wählerinnen und Wähler wegen fehlender Stimmzettel aktiv nach Hause geschickt haben sollten, wäre das nicht nur rechtswidrig, sondern auch aus demokratischer Sicht unerträglich. Mir scheint aber, dass sich die Geschehnisse im Wesentlichen noch in einem Graubereich bewegen. Denn die meisten Menschen, die über Stunden hinweg vor den Wahllokalen auszuharren bereit waren, konnten letztlich ihre Stimmen abgeben.
 

Wie fällt Ihre rechtliche Bewertung an der Stelle aus?

Ogorek: In dieser Lage, in der sich ein Großteil der betroffenen Personen wiedergefunden haben dürfte, wurde die Wahlhandlung eindeutig erschwert. Sie wurde aber nicht verhindert. Ab welchem Grad der Erschwernis – z.B. bei stundenlangem Warten älterer Menschen – hier ein Wahlrechtsverstoß zu sehen wäre, ist nicht abschließend geklärt. Unabhängig davon gilt allerdings: Selbst, wenn im Rahmen der Wahlprüfung Verstöße festgestellt würden, ginge damit nicht automatisch auch eine erfolgreiche Anfechtung der Wahlen insgesamt einher. Vielmehr müsste sich dadurch die parlamentarische Sitzverteilung ändern. Ob das der Fall ist, kann abschließend erst beurteilt werden, sobald Genaueres bekannt ist. Wenn ich mich heute festlegen müsste, wäre meine Prognose, dass eine Wahlanfechtung trotz aller Fehler mangels Mandatsrelevanz keinen Erfolg haben dürfte.
 

Komplettiert wurde das „Chaos“ in Berlin dadurch, dass am Wahltag zeitgleich ein großer Marathon stattfand. Muss das sein?

Ogorek: Nein, sicher nicht. Spätestens jetzt sollte Einigkeit darüber bestehen, dass künftig soziale, gesellschaftliche oder sportliche Großereignisse, die voraussichtlich mit wichtigen Wahltagen kollidieren könnten, nur unter Vorbehalt genehmigt werden dürfen. Dass der Berliner Senat weiterhin der Auffassung ist, die Verlegung der Bundestagswahl wäre die einfachere Variante gewesen, halte ich für bemerkenswert. Wahlen sind das Lebenselixier der Demokratie und müssen gerade in der Hauptstadt jenen Vorrang erhalten, den sie der Verfassung nach verdienen.

 

Medium: Heilbronner Stimme
Datum: 30.09.2021
Autor: Hans-Jürgen Deglow