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Spielraum für die Impfpflicht

Das Karlsruher Urteil zur Bundesnotbremse ist auch ein Einspruch gegen vorschnelles Argumentieren mit dem Grundgesetz.

 

Seit Wochen wird über die Einführung einer Impfpflicht zum Schutz vor dem Corona-Virus diskutiert – zunächst für bestimmte Gruppen, mittlerweile sogar für die gesamte Bevölkerung. Nun hat sich die Politik offenbar entschieden. Obgleich aus den Reihen der FDP noch Widerstand droht, kündigte der künftige Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) an, eine allgemeine Impfpflicht „schnell auf den Weg“ zu bringen. Zuspruch für sein Vorhaben erhielt er postwendend aus den Ländern. Niedersachsens Regierungschef Stephan Weil (SPD) verwies etwa auf eine „breite Mehrheit“ unter seinen Amtskollegen, NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) stellte gar zeitnahe Vorbereitungen in Aussicht. Ob eine Pflicht zur Impfung rechtlich zulässig ist, steht freilich auf einem anderen Blatt.

In der Wochenzeitung „Die Zeit“ wurde der Berliner Staatsrechtslehrer Christoph Möllers unlängst gefragt, ob er renommierte Verfassungsrechtler kenne, die Bedenken gegen eine Impfpflicht erhoben hätten. Angesichts des medial bisweilen vermittelten Eindrucks, wonach ein entsprechendes Gesetz rechtlich kaum haltbar sein könne, mag die klare Antwort überraschen: Zwar hätten einzelne Juristen durchaus Vorbehalte formuliert, so Möllers. Die wenigsten aber sähen durchgreifende Einwände. Es sind in der Tat vor allem Politiker, die aus taktischen Motiven eine Unvereinbarkeit mit dem Grundgesetz behaupten und damit den Wettbewerb der Parteien im Keim ersticken wollen.

Doch wer allzu schnell Verfassungswidrigkeit beklagt, der spricht ein großes Wort gelassen aus. Ähnliche Zweifel an der Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz waren ebenfalls in Bezug auf die „Bundesnotbremse“ geäußert worden. Deren Zulässigkeit hat das Bundesverfassungsgericht am Dienstag nun eindeutig bejaht. Seinen Beschlüssen lassen sich auch Hinweise für die aktuelle Debatte entnehmen.

So weisen die Karlsruher Richter wiederholt auf den Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers hin, der in einem komplexen, dynamischen und durch Ungewissheiten gekennzeichneten pandemischen Geschehen besonders weit sei. Mit der Verfassung vereinbar seien Maßnahmen schon dann, wenn sie sich nicht von vornherein als offensichtlich wirkungslos erwiesen. Zudem wird immer wieder hervorgehoben, dass es eine „überragend wichtige“ Aufgabe aller staatlichen Ebenen sei, Leben und Gesundheit Einzelner sowie die Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems insgesamt zu schützen.

Um nun an dieser Stelle keinen falschen Eindruck aufkommen zu lassen: Niemand kann heute mit absoluter Gewissheit vorhersagen, ob die geplanten Regelungen zu einer Impfpflicht den hohen Anforderungen der Verfassung genügen. Sie wären, obwohl ihre zwangsweise Durchsetzung kaum drohen dürfte, ein nicht unerheblicher Eingriff in die körperliche Unversehrtheit. Dennoch darf nicht ausgeblendet werden, dass seit der ersten Covid-19-Erkrankung auf deutschem Boden fast jedes Grundrecht in einem zuvor schier undenkbaren Maße eingeschränkt wurde. Dies gilt für die Religions- und Versammlungsfreiheit ebenso wie für die ungestörte Berufsausübung oder das neu entwickelte Grundrecht auf schulische Bildung. Die Karlsruher Richter haben überzeugend ausgeführt, dass alle Corona-bedingten Maßnahmen nicht isoliert, sondern in ihrer Gesamtheit in den Blick zu nehmen sind. Entgegen dem bisweilen vorherrschenden Eindruck würde die Einführung einer – auch allgemeinen – Impfpflicht nicht auf eine gänzlich neue Eingriffsebene hinauslaufen. Im Gegenteil stünde sie in einer Reihe mit jenen gravierenden Grundrechtsbeschränkungen, die nach den jüngsten Beschlüssen aus Karlsruhe durch staatliche Schutzpflichten bislang zu rechtfertigen waren.

Hinzu kommt, dass die erprobten und nun vom Bundesverfassungsgericht bestätigten Instrumente zur Pandemiebekämpfung zwar temporäre, nicht aber mittel- und langfristige Erfolge versprechen. Von den bundesweiten Infektionen treten aktuell mehr als achtzig Prozent bei nicht-immunisierten Menschen auf, zudem sind ihre Krankheitsverläufe in der Regel deutlich schwerer. Nach fast zwei Jahren Pandemie muss die Gesellschaft endlich einen Ausweg aus der Krise finden. Ansonsten werden weiterhin unzählige Menschen in Deutschland sterben; an guten Sommertagen einige wenige und in den Wintermonaten, wie aktuell, teils Hunderte täglich. Mildere und gleich effektive Mittel, die aus Gründen der Verhältnismäßigkeit vorrangig heranzuziehen wären, sind wohl nicht mehr ersichtlich. Wer dennoch glaubt, auf eine Impfpflicht verzichten zu können, redet – ohne es zu wollen – einem nicht enden wollenden Ausnahmezustand das Wort.

All dies macht deutlich: Aus der „Corona-Spirale“ heraus führt auf die Dauer nur eine sehr hohe Impfquote. Sie ist mit Appellen und Überzeugungsarbeit allein offensichtlich nicht zu erreichen. Wenn Bund und Länder sich für eine, möglichst die gesamte Bevölkerung erfassende Impfpflicht entscheiden und ihre Erwägungen gut begründen, dürfte das Grundgesetz ihnen den dazu erforderlichen Spielraum lassen.
 

Medium: Kölner Stadt-Anzeiger
Datum: 02.12.2021
Autor: Markus Ogorek (Gastbeitrag)