Herr Ogorek, was halten Sie von der nächtlichen Ausgangssperre in hessischen Corona-Hotspots aus rechtlicher Sicht?
Der Staat kann Grundrechte einschränken – und er kann sie auch sehr stark einschränken, wenn er einen legitimen Zweck verfolgt und wenn die Einschränkung der Grundrechte gerechtfertigt ist durch die Ziele, die er erreichen möchte. Das ist aus meiner Sicht mit Blick auf die Ausgangsbeschränkungen sehr zweifelhaft.
Warum?
Wir haben ein Problem der Verhältnismäßigkeit. Es kann doch nicht sein, dass wir Innenstädte tagsüber offen lassen, dass wir das Weihnachtsgeschäft ermöglichen und überfüllte Straßen sehen. Und nachts, wenn die Straßen leer sind, heißt es plötzlich: Niemand darf mehr rausgehen. Meines Erachtens geht es gar nicht um die Menschen, die nachts oder früh morgens auf der Straße unterwegs sind. Eigentlich geht es darum, dass man den privatesten Bereich, nämlich das Treffen in Wohnungen, reglementieren möchte, sich aber nicht richtig traut. Das ist mutlos.
Aber die Wohnung ist grundgesetzlich geschützt. Ist es nicht vernünftig, wenn ein milderes Verbot gewählt wird?
Hier geht es um Ehrlichkeit. Es geht um die Akzeptanz der Maßnahmen in der Bevölkerung. Wenn die Situation wirklich so gravierend ist, wie es aussieht, dann wäre es doch nachvollziehbar zu sagen: Bisher wurden Wohnungen ausgeklammert bei unseren Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung. Aber jetzt müssen wir auch bei den Wohnungen tätig werden. Dagegen sagt man: Es gibt eine Ausgangssperre, aber wir sehen Ausnahmen von der Ausgangssperre „aus gewichtigen Gründen“ vor, wie es heißt. Kontrollen in Wohnungen wären noch einschränkender, versprächen aber auch eine größere Wirkung. Daneben haben wir ein Vollzugsproblem. Regelungen, die nicht vollziehbar sind, sind keine guten Regelungen.
Was heißt „nicht vollziehbar“?
Polizei und Ordnungsämter werden alleingelassen. Ein Beamter trifft auf den Bürger spät in der Nacht und fragt, was dieser dort tue. Dann muss er überlegen, ob die Antwort einen „gewichtigen Grund“ hergibt. Ein Beispiel: Es heißt, das Ausführen von Haustieren sei erlaubt. Aber wenn ich jetzt meinen Hund ausführe – wie weit von meiner Wohnung darf ich dann eigentlich unterwegs sein? Muss ich das Tier allein ausführen oder darf mich meine Frau begleiten? Diese Regelung ist wieder einmal sehr schnell und unbedacht auf den Weg gebracht worden, vieles bleibt im Unklaren. Mein Eindruck ist, dass die Kreise und Städte damit überfordert sind.
Ist das nur impraktikabel oder ein rechtliches Problem?
Es ist eine Frage der rechtlichen Bestimmtheit. Der Bürger muss wissen, woran er sich zu halten hat. Und die Verwaltung muss verstehen, was sie zu vollziehen hat.
Das heißt, Sie hielten auch härtere Einschnitte für vertretbar, wenn sie nur klarer wären?
Die Verfassung räumt dem Schutz des Lebens einen hohen Stellenwert ein. Wir sprechen derzeit von Hunderten Toten pro Tag. Bei einer so katastrophalen Situation im Gesundheitswesen können auch schwerwiegende Grundrechtseingriffe gerechtfertigt sein. Aber die Maßnahmen müssen von der Verwaltung vollzogen und von den Bürgern verstanden werden können. Nachts ist auf den Straßen zu wenig los, als dass diese Ausgangssperre einen signifikanten Beitrag dazu leisten kann, die Corona-Krise in den Griff zu bekommen.
Wenn jetzt jemand gegen die Ausgangssperre klagt: Würde sie dann kippen?
Dies zu prüfen, sind die Gerichte berufen. Ich habe ernsthafte Zweifel an der Rechtmäßigkeit dieser Allgemeinverfügungen. Die Bereitschaft der Judikative, dazwischen zu grätschen, wird umso größer, je mehr man dem Gesetzgeber oder Verordnungsgeber den Vorwurf von Schludrigkeit machen kann. Mir ist wichtig zu sagen: Es kann natürlich geboten und auch verhältnismäßig sein, eine Ausgangssperre zu erlassen. Aber sie muss so erlassen werden, dass sie effektiv, rechtssicher und bestimmt ist, dass die Ausnahmetatbestände klar sind. Man muss auch die Frage stellen: Sollte eine so gravierende Regelung wie eine Ausgangssperre nicht vom Parlament beschlossen werden?
Wie würden Sie diese Frage beantworten?
Die Legitimation einer Regelung, die von einer hessischen Stadt oder einem Landkreis getroffen wird, ist natürlich geringer als eine direkte Maßnahme des Landes. Das Grundgesetz sieht sogar vor, über „wesentliche“ Fragen das Parlament entscheiden zu lassen. Ich kann nur davor warnen, dass bei der Bevölkerung der Eindruck entsteht, man stehle sich als Land aus der Verantwortung und überlasse die Kommunen mehr oder weniger sich selbst. Der Landtag hat in der letzten Woche getagt, er hätte beteiligt werden können und sollen.
Medium: Frankfurter Rundschau
Datum: 15.12.2020
Autor: Pitt von Bebenburg