In hohem Tempo rast der dunkelgraue VW Golf mit Berliner Kennzeichen auf einen Sattelzug zu, prallt auf den Laster und schiebt sich tief unter dessen Ladefläche. Der Unfall geschieht am Morgen des 30. März 2019 bei Bayreuth auf der Autobahn A9 in Richtung München. Der Fahrer des Golfs stirbt noch am Unfallort, seine Beifahrerin überlebt schwer verletzt. Später wird die Staatsanwaltschaft feststellen, dass es „keine Anhaltspunkte für Fremdeinwirkung“ gab. Am Steuer saß der damals 72-jährige Friedrich Kurz, Journalist und zuletzt PR-Berater.
Zu seiner Beerdigung in Berlin-Mitte knapp zwei Wochen danach erscheint sogar Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU). Peter Gauweiler – christsoziales Urgestein – hält eine Rede. Was unter den Trauergästen kaum einer weiß: Der im bayerischen Traunstein geborene Kurz hat noch kurz vor seinem Tod als Berater für die chinesische Botschaft in Berlin gearbeitet. Der Fall führt in die Lobbynetzwerke, die sich das Regime in Peking in den vergangenen Jahren in Deutschland aufgebaut hat – mit Einladungen zu Reisen, mit Aufträgen oder verliehener Professorenwürde. Es sind Beziehungsgeflechte, die auffällig oft die CSU berühren, und bei denen deutsche Ermittler bisweilen den Überblick verlieren – etwa das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV).
Das zeigen bisher unbekannte Abhörprotokolle und Ermittlungsdokumente, die WELT AM SONNTAG vorliegen. Sie erzählen von einem chinesischen Spion namens „Jimmy“ und von zwei alten Freunden – dem Reporter Kurz mit seinen guten Drähten nach China und vielleicht noch besseren zum Verfassungsschutz und seinem Freund, einem soignierten Diplomaten. Beide geraten in die Welt der Spionage. Am Ende ist einer tot und einer kämpft um seinen Ruf. Und Jimmy? Spurlos verschwunden.
Der Verfassungsschutz-Chef warnt vor China
Drei Monate nach der Trauerfeier – im Juli 2019 – stellt Innenminister Seehofer zusammen mit Verfassungsschutzchef Thomas Haldenwang den Jahresbericht des Inlandsgeheimdienstes vor. Der Bericht warnt vor einer neuen Gefahr: Die Volksrepublik China setze nicht mehr bloß ihre Spione auf Deutschland an. Peking spanne zudem verstärkt „gut vernetzte deutsche Entscheidungsträger und Multiplikatoren“ als Lobbyisten für chinesische Interessen ein.
Seit November 2018 ist Haldenwang im Amt. Er will mit erfolgreicher Aufklärung punkten, gegen Extremisten und gegen ausländische Spione. Immer wieder warnt sein Dienst nun vor China, vor dessen „Streben nach Einfluss und Macht“. Die Volksrepublik habe es nicht nur auf deutsches Know-how und Rüstungstechnik abgesehen. Pekings Geheimdienste bekämpften hierzulande auch chinesische Dissidenten im Exil und seien auf der Jagd nach Interna aus der Politik. Und: Das ökonomisch aufstrebende Riesenreich verstehe es, „für Personen aus Wissenschaft und Wirtschaft Anreize zu setzen, um Informationen zu beschaffen“.
Der einstige CSU-Minister baut eine China-Brücke
Tatsächlich findet das Regime von Staatspräsident Xi Jinping Sympathisanten selbst dort in der deutschen Politik, wo es keiner erwartet hätte – bei einem ehemaligen Bundesinnenminister wie Hans-Peter Friedrich von der CSU. Er reist vier Tage nach der Trauerfeier für den PR-Berater Kurz nach China. Friedrich ist erst Gast in Peking und dann in Shanghai. Der Politiker trifft in der chinesischen Hauptstadt einen hochrangigen Vertreter der kommunistischen Partei und besucht eine Universität in Shanghai. Hier will ihm in Gesprächen mit deutschen Unternehmern die Idee gekommen sein, eine neue Organisation zu schaffen: die China-Brücke. Im Oktober 2019 gründet er sie zusammen mit zehn Frauen und Männern als eingetragenen Verein. Lobbyisten von Konzernen wie Huawei sind dabei und Parteimitglieder von FDP bis SPD. Sie wollen den deutschen „Dialog“ mit der Volksrepublik fördern und wünschen sich einen „konstruktiven Umgang“ mit dem Riesenreich.
Verfassungsschützer blicken nicht wie Politiker auf solche Aktivitäten. Sie schauen, ob Spionage im Spiel ist. Sind Bundestagsabgeordnete involviert, müssen sie Abstand halten, das verlangt das Bundesverfassungsgericht. Haldenwang könnte aber mit jemandem wie Friedrich ein Gespräch führen, ihn auf die Gefahren verdeckter Einflussnahme hinweisen. Tat er das? Das Bundesamt will es weder bestätigen noch dementieren. Man führe auch Gespräche „im parlamentarischen Raum“, doch zu einzelnen Treffen äußere man sich nicht. Es ist also nicht sicher, dass es im Fall Friedrich so war – aber gut möglich.
Nun ist Friedrich keiner, der sich gerne etwas sagen lässt. „Nein, China ist keine Diktatur“, erklärt er im April 2021 dem „Deutschlandfunk“. Die Volksrepublik sei eben „ein Staat, in dem im Wesentlichen eine Partei, nämlich die Kommunistische Partei, herrscht“. Natürlich müsse man Menschenrechtsverletzungen nicht hinnehmen, so der frühere Innenminister, aber er finde es wenig zielführend, „permanent lautsprecherisch durch die Gegend zu laufen und besserwisserisch zu sagen, was andere zu machen haben“. Zwei Jahre später wird Friedrich dem Sender vorwerfen, das Diktatur-Zitat aus dem Zusammenhang gerissen zu haben – dabei ist es eindeutig so gefallen. Wie sein Interesse für China überhaupt erwacht sei, fragt ihn im Juni 2023 der Sender NDR. „Ich war damals vor der Frage, sollst du jetzt Richtung Afrika ein bisschen versuchen, dich einzubringen oder Richtung China“, antwortet Friedrich. „Habe dann China ausgewählt.“
Die Chinesen zeigen sich erkenntlich. Einige Tage nach dem Interview ist Friedrich wieder in Shanghai eingeladen. An der Tongji-Universität wird ihm der Titel eines Ehrenprofessors verliehen. Fang Shouen, der Senatspräsident der Universität, „dankte Dr. Friedrich für seinen jahrelangen Einsatz“, heißt es in einer Pressemitteilung auf deutsch. Nur in deren chinesischer Fassung erwähnt die Hochschule, dass Fang Shouen ihr Sekretär der Kommunistischen Partei ist. Reisen, Titel, Ehren – sind es solche Anreize, die China attraktiv für deutsche Politiker machen, gerade solche gegen Ende ihrer Karriere? Fragen von WELT AM SONNTAG lässt Friedrich unbeantwortet.
Der PR-Mann rät China: Pandas statt rote Fahnen
Wie solche Anreize funktionieren, zeigt der Fall des Friedrich Kurz – des Mannes, der im Frühjahr 2019 auf der Autobahn stirbt. Im März 1947 geboren, arbeitet er jahrelang als Journalist für die ARD und zuletzt für das ZDF-Magazin „Frontal 21“. Abenteuerlust zeigt der begeisterte Drachenflieger nicht nur in der Freizeit, sondern auch als Reporter. Er berichtet von Kriegen und Konflikten, aus Serbien und dem Südsudan. In den Jahren vor seinem Tod arbeitet er für die Berliner PR- und Lobbyagentur WMP Eurocom. Dort ist er für seine guten Kontakte in die bayerische Regierungspartei bekannt: „Der war ein bisschen so ein CSU-Mensch“, sagt ein Kollege über ihn.
WMP hat sich auf das spezialisiert, was man „Nation Branding“ nennt. Meist geht es darum, den Ruf von Staaten zu verbessern, die im Inland Bürgerrechte missachten, aber im Ausland gerne Modernität vorspiegeln. Kurz hilft als Berater erst bei dem damaligen WMP-Kunden Katar. Dann gehört er zu den Zuarbeitern für den Klienten Saudi- Arabien. In einer Präsentation für die Kunden dort beschreiben die WMP-Oberen im Jahr 2017 auch die Fähigkeiten von Friedrich Kurz. Er verfüge über „vertiefte Erfahrung im Erzählen von Geschichten“ und in „der Formung der Wahrnehmung“.
Spätestens ab 2018 setzt Kurz diese Fähigkeiten für ein weiteres Land mit Imageproblemen ein: die Volksrepublik China. Im Juni 2018 schreibt der Berater ein PR-Konzept für deren Botschaft in Berlin. Auf 42 Seiten listet er Tipps und „Story-Ideen“ auf, wie man das chinesische Projekt einer neuen Seidenstraße quer durch Asien nach Europa in Deutschland populärer machen kann – also Chinas Plan, mit Infrastrukturvorhaben im Ausland seinen Einfluss zu mehren. Kurz macht den Vorschlag, mehr mit niedlichen Panda-Logos zu arbeiten und weniger mit roten Fahnen: „Alle Menschen lieben Pandas“, schreibt er. Und warnt: „Chinas Gegner schlafen nicht.“ Seinen chinesischen Auftraggebern gibt er den Hinweis, dass es unter deutschen Journalisten „Reste von Antikommunismus“ geben könne, die die Wahrnehmung der Volksrepublik negativ beeinflussten.
Aus dem Mund des als konservativ geltenden Kurz klingt das kurios. Er rät Chinas Botschaft auch, eine erfahrene deutsche PR-Agentur „mit vielen vertrauensvollen Journalisten-Kontakten“ anzuheuern. Es klingt, als sei WMP gemeint. Aber die Firma beteuert, dass Kurz das Konzept auf eigene Rechnung schrieb. Offenbar wird er dafür gut bezahlt. Allein für die Übersetzung des Textes habe die Botschaft 3000 Euro aufgewendet, verrät der PR-Mann in einer Mail an Freunde im Oktober 2018.
Ist der Freund noch ein Freund?
Im Jahr 2020, ein Jahr nach dem Autounfall, wird – zunächst nur in Umrissen – bekannt, dass Kurz vor seinem Tod zudem eine merkwürdige Doppelrolle in einem Verdachtsfall auf Spionage spielte. Gemeint ist die Causa um Gerhard Sabathil. Auch er war bei der Trauerfeier für Kurz dabei. Beide kennen sich aus gemeinsamen Tagen im Ring Christlich-Demokratischer Studenten in München, der Studentenorganisation von CDU und CSU. Sabathil trat schon mit 18 im badischen Pforzheim in die CDU ein. Nun, als ältere Herren, eint die Freunde aus besten konservativen Kreisen ein gewisses Faible für China – ein verhängnisvolles, wie sich bald zeigt.
Heute ist Sabathil 69 Jahre alt. Stets elegant gekleidet, trägt er einen jugendlich wirkenden Bürstenhaarschnitt und besitzt die goldene Ehrennadel für 50 Jahre Mitgliedschaft in der CDU. Nach dem Studium hat er Karriere gemacht – als Beamter der EU-Kommission und dann als Diplomat für den auswärtigen Dienst der Europäischen Union. Bis er 2012 eine junge chinesische Politikwissenschaftlerin kennenlernt. Sabathil ist da gerade EU-Botschafter in Südkorea. Beide werden ein Paar. Ihretwegen findet Sabathils Diplomatenkarriere 2016 ein jähes Ende. Er hat seiner Lebensgefährtin ein sieben Seiten langes EU-Dokument zur Umweltsituation in China überlassen, das als Verschlusssache klassifiziert ist – wenn auch auf der zweituntersten Stufe. Das kommt heraus. Sabathil verliert seine Sicherheitsfreigabe und seinen Botschafterposten.
Dafür nimmt er einen gut bezahlten Geschäftsführerposten bei der Lobbyfirma Eutop an – den er aber Anfang 2020 ebenfalls abgeben muss. Polizeibeamte haben sich im Auftrag des Generalbundesanwalts zu groß angelegten Razzien bei Sabathil und zwei Mitbeschuldigten eingefunden; einer von ihnen arbeitet damals bei einem bekannten Thinktank, der andere für ein außenpolitisches Magazin. Die Ermittler durchsuchen Wohnungen und Büros in Brüssel, Berlin und im bayerischen Bad Kötzting. Nun kommt der mysteriöse chinesische Spion ins Spiel. Der Verdacht: Sabathil und die beiden anderen Männer hätten illegal Informationen an jenen „Jimmy“ genannten chinesischen Geheimdienstler am Shanghai Institute for European Studies (SIES) weitergegeben, eine „Tarnorganisation“ des chinesischen Geheimdienstes. Der Verfassungsschutz hatte die Bundesanwaltschaft mobilisiert – auch aufgrund von Hinweisen von Kurz. Also ausgerechnet des Mannes, der auch für die Chinesen gearbeitet hat und obendrein Sabathils alter Freund ist?
Doch kaum sind die Durchsuchungen beendet, beginnt der Fall – genannt „Lotus“ – zu kollabieren. Die Ermittler finden nichts Belastendes in den Wohnungen und Büros. Im November 2020 stellt die Bundesanwaltschaft die Ermittlungen ein. „Der Verfassungsschutz hat mein Leben zerstört“, klagt Sabathil. Doch bis heute wollen die Behörde von Thomas Haldenwang und das von Nancy Faeser (SPD) geführte Bundesinnenministerium keine eigene Schuld erkennen. Der Vorwurf, dem Verfassungsschutz „seien im Zuge der Ermittlungen Fehler unterlaufen, ist zurückzuweisen“, antwortet das Ministerium im August als Antwort auf eine Dienstaufsichtsbeschwerde, die Sabathils Anwälte im Januar 2023 eingereicht hatten.
Genau solche Fehler hatte dabei bereits im März 2020 die Bundesanwaltschaft moniert. In einem vertraulichen Schreiben an Haldewangs Verfassungsschützer fragen sie nach der Rolle von Friedrich Kurz. Aus den Unterlagen, die dieser Zeitung vorliegen, geht heute hervor: Die Verfassungsschützer hatten ausgerechnet den PR-Berater Kurz als Vertrauensmann angeheuert und ihn als Quelle gegen seinen Freund Sabathil genutzt. In einer Verdachtsanzeige im Jahr 2019 beruft sich das BfV für seinen Vorwurf gegen Sabathil jedenfalls auf eine langjährige, angeblich bewährte Quelle des BfV. Er sei ein „zuverlässiger Hinweisgeber“ – und er sei ein Sabathil-Bekannter, der im März 2019 bei einem Verkehrsunfall zu Tode kam. Das passt nur auf Kurz.
Es klingt abenteuerlich: Ein Mann, der selbst Geld von den Chinesen nahm, hat daneben Geld von deutschen Verfassungsschützern erhalten und diente ihnen als Belastungszeuge für chinesische Spionage – und offenbar als Hauptquelle für diesen Verdacht. Anfangs hatten sich die Beamten zwar ebenfalls auf Hinweise eines ausländischen Geheimdienstes gestützt, Sabathils chinesische Lebensgefährtin könnte mit einem Geheimdienst der Volksrepublik unter einer Decke stecken. Aber dieser Verdacht erhärtete sich nicht. Gegen die Frau wurde nie ermittelt. Was die Sache noch schlimmer macht: Der spätere V-Mann Kurz selbst hatte Sabathil erst den Kontakt zu dem mutmaßlichen chinesischen Spion „Jimmy“ vermittelt.
Der Spion „Jimmy“ wird zum Phantom
„Jimmy“ heißt eigentlich Chao Zhou. Aber vielleicht ist auch das nicht sein richtiger Name. Die deutschen Behörden gehen davon aus, dass er ein Offizier des chinesischen Ministeriums für Staatssicherheit ist. Menschen, die ihn zwischen 2017 und 2019 getroffen haben, beschreiben einen Mann, der 30 bis 40 Jahre alt gewesen sei, um die 1,70 Meter groß, Brille, schmächtig. Er sei verheiratet und habe ein Kind, das soll er gesagt haben. Er stellte sich als Mitarbeiter des SIES vor, aber möglicherweise war das eine Legende. Als ein Korrespondent der „Süddeutschen Zeitung“ im Juni 2020 versucht, den angeblichen Institutsmitarbeiter telefonisch zu erreichen, legt der stets auf. Als WELT AM SONNTAG an zwei Mailadressen schrieb, die „Jimmy“ nutzte, kam keine Antwort – stattdessen eine Fehlermeldung für die Adresse an dem Institut in Shanghai.
Unterlagen zeigen jetzt erstmals, wie der Kontakt zwischen Sabathil und „Jimmy“ zustande kam. Die Sache lief über einen Freund von Kurz. Dem PR-Berater schrieb „Jimmy“ am 22. März 2017 eine Mail: „I am Jimmy from Shanghai Institute for european studies (sies)” – hier sei Jimmy vom SIES. Er suche Experten, die nach China kommen und Vorträge zur Bundestagswahl in Deutschland halten könnten, am liebsten einen von der CDU und einen von der SPD. Auch Kurz selbst sei willkommen. Reisekosten trage das Institut. Die Vorträge würden honoriert. Noch am selben Tag leitet Kurz die Mail an Sabathil („lieber Gerhard“) weiter: „Kennst Du das Institut?“, fragt er. „Soll ich/wir kooperieren?“ Die Freunde entscheiden, nach Shanghai zu fahren. Auf der Webseite des SIES ist bis heute ein Bericht über das Event am 8. Juni 2017 zu finden. Kurz ist dort auf einem Foto gut zu erkennen. Laut der Webseite glauben die Chinesen aus irgendeinem Grund, dass Sabathil Mitglied der SPD sei.
Der Ex-Diplomat selbst sagt später den Ermittlern, dass er in Shanghai über den „Schulz- Hype“ reden sollte – den damaligen kurzzeitigen Glauben der Sozialdemokraten, Martin Schulz sei ihr unschlagbarer Kanzlerkandidat. Bei drei Terminen mit Sabathil war „Jimmy“ offenbar dabei, zweimal nahm auch Kurz teil. 2018, bei einem Seminar in Peking, sei ihm „aufgestoßen“, so erzählt es der Ex-Diplomat später den Ermittlern, dass „Jimmy“ ihn und Kurz „mit sieben oder acht Professoren alleine“ gelassen habe. Dann aber habe er sie bei einem Besuch der Chinesischen Mauer begleitet. Wegen eines Treffens von Kurz mit „Jimmy“ in Prag will sich Sabathil besonders gewundert haben. „Ich habe den Fritz gefragt: ‚Dich will er sehen, mich nicht?‘ Bei mir entstand der Eindruck, dass er auf ein Treffen mit mir keinen Wert legt“, sagt Sabathil den Ermittlern Anfang 2020 laut Vernehmungsprotokoll. Kurz ist noch am Leben, als die Verfassungsschützer im August 2018 beginnen, Sabathils Telefone abzuhören. Wie bei solchen Lauschaktionen deutscher Geheimdienste üblich, kommt die Genehmigung nicht von einem Richter, sondern von der sogenannten G-10- Kommission des Bundestages. Darin sitzen meist ehemalige Abgeordnete.
Lauscher in der Leitung – eifrig, aber ahnungslos
Spätestens beim Mithören hätte den Verfassungsschützern klar werden müssen, dass ihre vermeintlich vertrauenswürdige Quelle Friedrich Kurz eigene Interessen gehabt haben könnte. Das legen Protokolle nahe, die über Sabathils Telefonate erstellt wurden. In einem Gespräch im Dezember 2019 etwa hören die Lauscher eine Aussage, die sie hätte alarmieren können: Anders als er selbst, sagt Sabathil einem der zwei Mitbeschuldigten, habe Kurz von „Jimmy“ Geld bekommen: „Den Fritz hat er ja bezahlt, ne. Fritz hat er gut bezahlt.“ In einem weiteren abgehörten Telefonat im März 2019 gibt sich Kurz offen China-freundlich. Gegenüber Sabathil klagt er über Leute aus dem rechten politischen Spektrum, „die sofort über China herfallen“. Und er erwähnt den Wunsch ihres Ansprechpartners in Shanghai nach Kontakten in Deutschland, „die auch Verbindungen“ haben.
Aber womöglich haben die Bediensteten im BfV gar nicht so genau zugehört. Ihre Protokolle enthalten wiederholt stark wertende Zusammenfassungen und nur Auszüge der eigentlichen Gespräche. Einige klingen regelrecht irreführend – das zeigt ein Vergleich mit Abschriften derselben Gespräche, die ab Dezember 2019 vom Bundeskriminalamt erstellt wurden. Die dortigen Beamten kommen ins Spiel, seit 2019 offiziell der Generalbundesanwalt die Ermittlungen übernommen hat. Die BKAMitarbeiter beginnen nun, sich die Tonaufzeichnungen der abgehörten Telefonate anzuhören. Sie stoßen zum Beispiel auf einen Dialog zwischen Sabathil und einer Bankmitarbeiterin im Februar 2019. Er erwähnt dort erstens 50.000 Euro, die die Mutter seiner Lebensgefährtin für ihre Enkelin überwiesen habe – und zweitens einen Gesamtkontostand von 70.000 Euro dank einer Gehaltszahlung.
Die Verfassungsschützer hatten in ihrem Protokoll aber den Anschein erweckt, er habe einen Agentenlohn von 70.000 Euro erhalten. Im März 2020 kommt die Bundesanwaltschaft im vertraulichen Schreiben an den Verfassungsschutz zu dem Schluss, dass die „sehr knapp gehaltene“ Darstellung einen falschen Eindruck vermittele: „Als Indiz für die Zahlung eines Agentenlohns kann das Gespräch damit nicht angesehen werden.“ Doch der Bundesgerichtshof glaubte der Behauptung vom „Agentenlohn“ und zitierte sie im Dezember 2019 als eine Grundlage für Durchsuchungen in der Causa – so wie es die offenkundig fehlerhaften Abhörprotokolle den Verfassungsschützern offenbar möglich machten, alle drei Monate eine Verlängerung ihrer Lauscherlaubnis zu ergattern.
Auch in zwei weiteren Vermerken, die sie als Belege für nachrichtendienstliche Anwerbeversuche sahen, hatten sie wichtige Teile der Aussagen nicht korrekt wiedergegeben. Sabathil beschreibt einem der zeitweiligen Mitbeschuldigten das, was „Jimmy“ anbietet: irgendetwas „zwischen Anwerbung“ – aber der Bekannte sei ja „politisch gefestigt“ – und einem Reisestipendium. Also eine hochschultypische Förderung. Die Scholarship fehlt in dem BfV-Protokoll.
Und dann ist da der BfV-Vermerk vom 6. März 2019, zu einer Unterhaltung zwischen Sabathil und einem seiner angeblichen Mittäter im Februar 2019. „Aus diesem Gespräch geht hervor, dass Gerhard Sabathil eindeutig nachrichtendienstlich tätig ist“, schreiben die Verfassungsschützer. Bei seinen vielen Besprechungen mit hochrangigen Politikern sammele Sabathil Informationen über politische Entwicklungen „und über neue Planungen der Bundeswehr“. Er sei „daher gefährlich für die Bundesrepublik Deutschland“. Doch aus einem später erstellten BKA-Protokoll geht hervor, dass die Bundeswehr in dem Gespräch gar nicht erwähnt wurde.
Wer die Abschriften liest, stößt zudem zwar auf viele Erwähnungen hoher Politiker und Beamter – bis hin zum damaligen Außenminister Heiko Maas (SPD). Sabathil erwähnt diese Kontakte, aber nennt kaum Informationen, die er in den Gesprächen mit ihnen gewonnen hätte. Vor allem fällt eines auf: Die Auswerter der abgehörten Gespräche – auch im BKA – wissen offenkundig oft gar nicht genau, von wem die Rede ist. Als es um Maas geht, notieren die Ermittler einen gewissen „Maaß (phon.)“ – sie schließen also aus der Phonetik auf den Namen, obwohl im Kontext doch klar ist, dass der damalige Außenminister gemeint ist.
Ein Freund, der für China arbeitet und ihn, Sabathil, in diese Kreise hineinzieht und ihn zugleich beim deutschen Inlandsgeheimdienst anschwärzt – als ob das nicht verrückt genug wäre. Noch abgründiger wirkt im Rückblick ein Telefonanruf von „Jimmy“, der nicht protokolliert ist, aber an den sich Sabathil erinnert. Nach dem Unfall auf der A9 habe ihn der Chinese über den Tod von Kurz informiert, sagt der frühere Diplomat im Januar 2020 den Ermittlern. „Ich habe mich gefragt, wieso ich das von ‚Jimmy‘ mitgeteilt bekam“, bekannte Sabathil laut Protokoll. Woher wusste der Chinese so früh von dem Unfall? Dies ist eine der offenen Fragen, die es in der Causa nach wie vor gibt. In dem Schreiben vom März 2020 erkundigt sich dann die Bundesanwaltschaft beim Verfassungsschutz nach der Rolle des PR-Beraters Kurz. Habe er sich „selbstständig als Quelle zur Verfügung gestellt oder wurde er angeworben“? Die Antwort der Verfassungsschützer ist nicht bekannt.
Zu den ungeklärten Fragen gehört auch, welchen Grund Kurz gehabt haben kann, den eigenen Freund anzuschwärzen – und das offenbar gleich im Jahr 2017, nachdem er ihm den Kontakt mit „Jimmy“ und dem Institut in Shanghai vermittelt hatte. War Kurz damals etwa in Geldnot, nahm es dankbar von WMP, BfV und China? Belege dafür gibt es nicht. Theoretisch vorstellbar ist eine Intrige zwischen zwei Lobbyagenturen, die um Kunden aus Fernost konkurrieren. „Mein Eindruck war: Kurz wollte in China Aufträge an Land ziehen“, sagt einer, der 2017 in Shanghai dabei war. „China hat ein PR-Problem“, habe ihm der WMP-Mann anvertraut.
Wollte das Unternehmen die damals von Sabathil mitgeführte Firma Eutop ausbooten? Sicher ist: Die Firma WMP war am Thema China interessiert. Im Oktober 2018 übermittelte ihr damaliger Chef Michael Inacker Geschäftspartnern eine – wie er schrieb – „exklusive Einladung“ zu einem Mittagessen mit zwei Diplomaten, die bis Sommer 2018 die EU und Deutschland als Botschafter in Peking vertreten hatten. WMP verweist heute bei Nachfragen an Inacker – und der zurück an seinen ehemaligen Arbeitgeber. Gegenüber diesem sei er weiter „zur Verschwiegenheit verpflichtet“. Kurz kann zu all den Fragen und Vorwürfen keine Stellung mehr nehmen. Seine Lebensgefährtin, die auf dem Beifahrersitz den Autounfall überlebt hat, wusste nach eigenen Worten nichts von der Causa. Seine Tochter antwortet nicht auf eine Anfrage – ihr gutes Recht.
Die Jagd auf den Spion endet im Nirgendwo
Die Verfassungsschützer haben sich im Fall Sabathil offenkundig in einem Milieu verirrt, das ihnen fremd ist. Doch bis heute hat die Kölner Behörde ihre Fehler nicht erkennbar aufgearbeitet. Bereits in dem Schreiben vom März 2020 stellte die Bundesanwaltschaft den Verfassungsschützern grundsätzliche Fragen. Erstens zu Kurz‘ Rolle. Dass es „erhebliche Abweichungen“ zwischen den Tonaufzeichnungen der abgehörten Gespräche und den Lauschprotokollen des BfV gab, erwähnen sie ebenfalls. Die Bundesanwälte bitten „um Klärung des Zustandekommens der Protokolle sowie um Mitteilung der Kriterien, nach denen Gesprächsinhalte durch Ihre Auswerter wörtlich verschriftet, zusammengefasst oder nicht festgehalten werden“.
Aus dem Umfeld des Verfassungsschutzes kommt damals ein merkwürdiges Argument: Die Bundesanwälte und das BKA hätten doch über die vollständigen Audiodateien der abgehörten Unterhaltungen verfügt. So als rechtfertige dies das Anfertigen irreführender Protokolle. Auf neue Fragen dieser Redaktion verweist das Bundesamt auf das Innenministerium. Dort will man sich ebenfalls nicht äußern – es gebe ja noch ein Verfahren vor dem Verwaltungsgericht.
In der Tat klagt Sabathil bis heute gegen die Abhöraktionen. Er hat den renommierten Juraprofessor Markus Ogorek als Vertreter gewonnen – nach eigenen Angaben jemand, der dem Verfassungsschutz positiv gegenübersteht. Er kommt zu dem Schluss, dass das BfV in der Angelegenheit „gravierende Fehler gemacht“ habe. „Offenbar waren die zuständigen Beamten so darauf erpicht, endlich einen vermeintlichen China-Spion enttarnt zu haben, dass sie es fortan an der erforderlichen Professionalität fehlen ließen“, sagt Ogorek. So hätte Friedrich Kurz „nie als V-Mann eingesetzt werden dürfen, weil bei ihm nicht klar war, wessen Interessen er im Blick hat und er offenbar beträchtliche Summen aus der Volksrepublik erhielt“.
Und immer wieder führen Wege von China zur CSU
Wenngleich der Verdacht gegen Sabathil nicht fundiert war, sind die Warnungen vor chinesischen Einfluss- und Spionageaktivitäten weiterhin berechtigt. In einem anderen Fall arbeiten Verfassungsschützer und Bundesanwälte mit mehr Erfolg. Und wieder gibt es eine Verbindung zur CSU. Im Dezember 2021 verurteilt das Oberlandesgericht München einen Politologen aus Landshut namens Klaus L., wegen geheimdienstlicher Agententätigkeit für China zu einer Bewährungsstrafe von zwei Jahren. Eine Summe von 60.000 Euro, die ihm die Chinesen gezahlt haben, ziehen die deutschen Behörden ein. Klaus L., längst jenseits der 70, arbeitete zuvor für die CSU-nahe Hanns-Seidel- Stiftung und offenbar als Informant für den BND. Erstmals soll ihn der chinesische Geheimdienst kontaktiert haben, als er 2010 als Gastdozent die Tongji-Universität in Shanghai besuchte – jene Hochschule, die den CSUMann Hans-Peter Friedrich jüngst zum Honorarprofessor ernannte.
Eine gewisse Offenheit für Kontakte mit der Volksrepublik ist in Bayern Regierungspolitik. Das ist sicher auch erklärbar durch die großen Firmen im Land, die im Reich der Mitte Geschäfte machen. Und auch in anderen Parteien gibt es Politiker, die sich mit einer gewissen Hingabe um die Beziehungen zu China kümmern. Nicht zufällig geht es häufig um Männer, die ihre Karriere in der Bundespolitik hinter sich haben. „Die Chinesen pflegen die Silberrücken, rollen ihnen den roten Teppich aus“, sagt Thorsten Benner, Direktor des Thinktanks GPPI in Berlin. „Das ist eine Mischung aus Geld, Ego und Überzeugung“, vermutet er über die Motive der Umworbenen.
Abgeordnete zu Tisch bei Chinas Botschafter
Selbst in der CDU stößt es einigen auf, dass nach der Bundestagswahl 2021 auf Vorschlag der Schwesterpartei CSU China-Brücke-Chef Hans-Peter Friedrich auch noch zum Vorsitzenden der Deutsch-Chinesischen Parlamentariergruppe avancierte – er, der China nicht als Diktatur bezeichnen mochte.
Ende 2022 gibt Friedrich immerhin den Vorsitz der China-Brücke ab, bleibt aber Leiter ihres „Dialogforums Politik“. Die Parlamentariergruppe, kurz China-PG, trifft sich weiter mehrmals im Jahr – nur dass die Bürger bei solchen Gruppen nicht erfahren, wer alles in ihr Mitglied ist. Lediglich die Namen der Vorstände sind publik. Und nur der Botschafter des jeweiligen Partnerlands bekommt die vollständige Mitgliederliste. Die FDP-Abgeordnete Gyde Jensen, selbst Mitglied in der China-PG, findet das unverständlich: „Mir fällt kein guter Grund ein, warum die Mitgliederlisten der Parlamentariergruppen nicht veröffentlicht werden sollten“, sagt sie. Gerade im Parlament, in dem sich der Verfassungsschutz zu Recht zurückhalten muss, wäre öffentliche Kontrolle eigentlich wichtig. Unzufrieden ist auch Boris Mijatovic, der für die Grünen Mitglied der China-PG ist. „In der Gruppe werden zu wenig kritische Punkte angesprochen“, sagt er – etwa die chinesischen Drohungen gegen Taiwan.
Als die deutsch-chinesische Gruppe im vergangenen Jahr den Botschafter Pekings einlud, reagierte der prompt mit einer Gegeneinladung zum Abendessen in seiner Residenz in Berlin. Einige in der China-PG hätten den Botschafter lieber im eigenen Haus empfangen. Hans-Peter Friedrich und weitere Abgeordnete nahmen die Einladung dennoch offenbar mit Freuden an. Der Botschafter habe ja diesen Drehtisch für allerlei Köstlichkeiten, soll jemand gesagt haben. China hat eben immer viel zu bieten. Gerhard Sabathil dagegen hat das Land in den vergangenen drei Jahren nicht mehr besucht.
Medium: WELT AM SONNTAG
Datum: 10.09.2023
Autor: Hans-Martin Tillack