„Wir wenden uns jetzt wieder der Sacharbeit zu“, sagt Wiebke Knell, Ko-Vorsitzende der FDP-Fraktion im Hessischen Landtag. Doch die Atmosphäre unter den acht Abgeordneten wird noch eine Weile durch die Vorgänge um die Einsetzung des Untersuchungsausschusses zum Fall der entlassenen Wirtschaftsstaatssekretärin Lamia Messari-Becker belastet sein.
Sie gipfelten in einer Plenarsitzung, die zumindest in der hessischen Parlamentsgeschichte beispiellos sein dürfte. Die Fraktionsführung bedrängte auf offener Bühne während einer laufenden namentlichen Abstimmung drei Abweichler aus den eigenen Reihen, um sie dazu zu bewegen, entgegen ihrer inhaltlichen Überzeugung gemäß dem Mehrheitsbeschluss der Fraktion für die Einsetzung des Untersuchungsausschusses zu votieren.
War das nicht ein Verstoß gegen die im Grundgesetz und in der hessischen Verfassung garantierte Freiheit des Abgeordnetenmandats? Die Antwort auf diese Frage beginnt mit der Aktuellen Stunde des Landtags, in der Wirtschaftsminister Kaweh Mansoori (SPD) die Trennung von seiner Staatssekretärin nur in ihrem „Fortgang“ bedauert.
Ein Abgeordneter verlässt zwischenzeitlich den Landtag
Der Aufforderung der Opposition, sich dafür zu entschuldigen, dass er Messari-Becker in einer Pressemitteilung ein „nicht hinnehmbares Fehlverhalten“ vorgeworfen hatte, kommt der Sozialdemokrat aber nicht nach. Diese Tatsache und eine Reihe von Fragen, die aus der Sicht der Opposition einer Antwort bedürfen, wurden bei den Fraktionen von FDP, Grünen und AfD einstimmig als Anlass gesehen, mit der Einsetzung des Gremiums zum schärfsten Schwert der Opposition zu greifen.
Das halten die FDP-Abgeordneten René Rock, stellvertretender Parlamentspräsident, Marion Schardt-Sauer und Matthias Büger für völlig übertrieben. Trotzdem lassen sie sich überreden, sich dem Mehrheitsbeschluss ihrer fünf Kollegen zu fügen und die Liste zu unterschreiben, mit der Grüne und FDP die Einsetzung des Ausschusses beantragten. Darauf stehen schließlich 30 Namen. 27, ein Fünftel aller Abgeordneten, hätten gereicht.
Doch am Nachmittag erscheint ein Medienbericht, der in einem Punkt nicht zutrifft. Darin heißt es, dass Stefan Naas, der Ko-Vorsitzende der Fraktion, der Presse gesagt habe, in der FDP-Fraktion seien sich in der Frage alle einig gewesen. Den darüber erzürnten drei Abgeordneten versichert Naas zwar, falsch wiedergegeben worden zu sein. Aber ihr Ärger legt sich nicht.
Er entlädt sich in der entscheidenden Plenarsitzung am Abend. Als die CDU-Fraktion eine namentliche Abstimmung beantragt, verlässt Büger den Plenarsaal. Bei dem Aufruf seines Namens ist er schlichtweg abwesend. Rock dreht der Präsidentin Astrid Wallmann (CDU) den Rücken zu. Schardt-Sauer schweigt. Minuten später kommt Büger wieder in den Saal zurück.
Wenn die drei nicht mit Ja votieren, bringen die beiden den Antrag stellenden Fraktionen insgesamt nur 26 Stimmen auf die Waage. Denn bei den Grünen fehlt eine Abgeordnete wegen einer Corona-Erkrankung. Damit wären Grüne und FDP nicht aus eigener Kraft, sondern nur mit der Unterstützung der AfDin der Lage, ihren Antrag durchzusetzen.
Verfassungsgemäß „nur ihrem Gewissen unterworfen“?
Mit diesem Argument bedrängt vor allem Oliver Stirböck, als Parlamentarischer Geschäftsführer für das Abstimmungsverhalten der FDP-Fraktion zuständig, die drei Abweichler. Am Ende stimmen sie doch zu. Rock und Schardt-Sauer fügen die Bemerkung hinzu, dass sie aufgrund eines Mehrheitsbeschlusses der Fraktion mit Ja votierten.
Waren sie in diesem Moment, wie es die Verfassung vorsieht, „an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen“? In einer Anschaulichkeit, wie man sie im deutschen Parlamentarismus nur selten erlebt, illustriert der Vorgang jedenfalls die Spannung zwischen der Freiheit des Abgeordnetenmandats einerseits und der Fraktionsdisziplin andererseits.
Sie soll für ein geschlossenes Auftreten der von einer Partei ins Parlament entsandten Mandatsträger sorgen und so die Durchsetzung politischer Ziele im politischen Alltagsbetrieb erleichtern. Meistens findet das Ringen zwischen Abweichlern und Fraktionsführung hinter verschlossenen Türen statt.
Gelegentlich berichten Medien über derartige Konflikte. Dass sie sich in diesem Fall in einer so spektakulären Weise bis in eine Plenarsitzung hinein fortsetzten, lag an der von der CDU-Fraktion beantragten namentlichen Abstimmung.
Aus der Sicht von Markus Ogorek, Direktor des Instituts für Öffentliches Recht und Verwaltungslehre an der Universität Köln, dürfte das Vorgehen der FDP-Fraktionsführung verfassungsrechtlich zulässig gewesen sein. Man habe die abweichenden Abgeordneten nicht zur Änderung ihres Stimmverhaltens „gezwungen“, sondern sie nur zur Zustimmung für den fraktionsintern mehrheitlich beschlossenen Einsetzungsantrag „angehalten“, den diese zuvor selbst noch unterzeichnet hätten.
„Es würde zu weit gehen, auch in energischen Diskussionen innerhalb einer Fraktion bereits einen Eingriff in das freie Mandat zu erblicken“, sagt Ogorek, der im vergangenen Jahr zusammen mit dem heutigen Innenminister Roman Poseck (CDU) einen Kommentar zur hessischen Verfassung herausgegeben hat. Politisch sei es „natürlich kein Signal der Stabilität“, wenn eine Fraktion ihre Meinungsverschiedenheiten im Plenarsaal lösen müsse.
Medium: Frankfurter Allgemeine Zeitung
Datum: 18.09.2024
Autor: Dr. Ewald Hetrodt