Tim Achtermeyer ist seit Juni Landesvorsitzender der NRW-Grünen. Die Räumung von Lützerath, die die Grünen als Regierungspartei mittragen, sorgt in den eigenen Reihen teils für Kritik und Unverständnis. „Die Situation ist alles andere als einfach“, sagte der 29-Jährige dem „Kölner Stadt-Anzeiger“. „Der Kampf für den Klimaschutz liegt in meiner politischen DNA. Wir haben uns die aktuelle Lage nicht ausgesucht.“ Die NRW-Grünen hatten bei der Landtagswahl im Mai mit 18,2 Prozent ihr historisch bestes Ergebnis erzielt und ein Regierungsbündnis mit der CDU geschmiedet. Jetzt bringt die Räumung des Kohledorfs die Partei in Bedrängnis.
Aktivisten demonstrierten vor der Parteizentrale in Düsseldorf, legten einen Kohlehaufen vor die Tür. „Je näher die Räumung rückt, umso deutlicher wird, dass das Tischtuch zwischen den Grünen und der Klimaschutzbewegung zerrissen ist“, sagt Dirk Jansen, Geschäftsführer des BUND in NRW. „Die durchaus vorhandenen Alternativen wurden gar nicht erst geprüft. Damit sind die Grünen mit dafür verantwortlich, wenn 280 Millionen Tonnen Braunkohle zusätzlich verstromt werden, die zu einem großen Teil in der Erde bleiben könnten“, so Jansen.
„Betrogen und enttäuscht"
Viele Wähler hätten darauf gehofft, dass die Grünen den Klimaschutz vorantreiben würden, ist sich Jansen sicher. „Die sehen sich jetzt betrogen und enttäuscht“, sagte der BUND-Geschäftsführer. Bei den Regierungsgrünen in NRW lägen „die Nerven blank“. Wegen der Glaubwürdigkeitskrise könne der „Höhenflug der Grünen bei den nächsten Wahlen jäh beendet“ werden.
Parteichef Achtermeyer weist die Kritik des Umweltverbands zurück. „RWE hat einen Rechtsanspruch, die Fläche unter Lützerath bergbaulich zu nutzen“, sagt der Politiker aus Bonn. Das habe das Oberverwaltungsgericht Münster letztinstanzlich geurteilt. NRW wäre in einer „besseren Ausgangsposition, wenn die Vorgängerregierung den Ausbau der Erneuerbaren nicht massiv ausgebremst hätte.“
„Die Lage ist schwierig"
Lützerath bringe die Grünen in eine „schwierige Lage“, sagt auch Arndt Klocke, Landtagsabgeordneter aus Köln. Jahrelang habe sich die Partei als Teil der jungen Klimaschutzbewegung rund um Fridays for Future gesehen und dies mit viel eigener Präsenz betont. „Heute stehen wir in Lützerath auf unterschiedlichen Seiten“, erklärt Klocke. Der vorgezogene Kohleausstieg 2030 sei ein politischer Erfolg: „Trotzdem ist es offenkundig nicht gelungen, dies breit genug zu kommunizieren.“
Reiner Priggen war von 2000 bis 2017 Abgeordneter der Grünen im Landtag. Der ehemalige Fraktionschef ist der politische Mentor von Vize-Ministerpräsidentin Mona Neubaur und Umweltminister Oliver Krischer. Priggen fordert die bürgerlichen Klimaschützer dazu auf, „keine Schutzkulisse zu bieten, in der Gewalttäter untertauchen können“. „Ich kann nachvollziehen, dass jüngere Leute daran verzweifeln, dass es mit dem Klimaschutz nicht schneller geht, aber Lützerath ist das falsche Symbol“, sagt der Politiker aus Aachen.
Vergleich mit Kosovo-Beschluss
Priggen erinnert an das Jahr 1999, als die Grünen dem Militäreinsatz im Kosovo zugestimmt hatten. Damals war Außenminister Joschka Fischer aus den eigenen Reihen mit einem Farbbeutel beworfen und verletzt worden. „Wenn man sich entscheidet, als Partei Verantwortung zu tragen, dann kann man seine Haltung nicht aus Opportunismus ändern, wenn es ernst wird. Wir werden den ein oder anderen mit dieser Haltung verlieren. Dann ist das so“, sagt Priggen.
Markus Ogorek ist Direktor des Instituts für Öffentliches Recht und Verwaltungslehre an der Uni Köln. „Die Räumung des ohnehin bereits verlassenen Dorfes mag ärgerlich erscheinen; wenn der vorgezogene Kohleausstieg aber gelingt, dürfte dies jedoch keine dauerhafte Entfremdung von wesentlichen Wählerschichten nach sich ziehen“, ist sich der Professor sicher. Etwas anderes gelte mit Blick auf die jungen Kritiker, die die Grünen „für prinzipienlos“ halten würden. „Ob diese Gruppe allerdings so erheblich ist, dass sie den immer breitere Wählerschichten erschließenden Grünen langfristig gefährlich werden, darf bezweifelt werden.“
Für die Grünen hänge nun viel davon ab, wie der Polizeieinsatz ablaufen werde, sagt der Professor. Parteichef Achtermeyer, der den Landesverband gemeinsam mit Yazgülü Zeybek führt, stellt schon mal klar, dass die politische Verantwortung beim NRW-Innenministerium liegt. „Wir sind mit parlamentarischen Beobachtern vor Ort. Ich gehe davon aus, dass die deeskalative Polizeistrategie umgesetzt wird. Sollte es berechtigte Kritik am Einsatz geben, werden wird diese thematisieren.“
Medium: Kölner Stadt-Anzeiger
Datum: 10.01.2023
Autor: Gerhard Voogt