Markus Ogorek ist Juraprofessor und Direktor des Instituts für Öffentliches Recht und Verwaltungslehre der Universität zu Köln. Er forscht insbesondere zum Staatsrecht und Verwaltungsrecht – und beschäftigt sich intensiv mit Fragen der Gefahrenabwehr.
WirtschaftsWoche: Herr Ogorek, weltweit wächst die Impfmüdigkeit, auch in Deutschland. Dabei ist die Impfquote hierzulande noch weit von den Zahlen entfernt, die es laut Robert-Koch-Institut bräuchte, um die Pandemie zu beenden. Wäre eine allgemeine Corona-Impfpflicht da ein probates Gegenmittel?
Markus Ogorek: Eine allgemeine Impfpflicht ist mit schweren Eingriffen in das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit verbunden. Um solche Grundrechtseingriffe zu rechtfertigen, bedarf es erheblicher Sachgründe. Eine Impfpflicht für alle muss Ultima Ratio bleiben.
Wäre eine allgemeine Impfpflicht denn verfassungsrechtlich überhaupt möglich?
Möglich wäre sie durchaus. Es gab ja schon einmal eine allgemeine Impfpflicht in Deutschland – gegen Pocken.
Die Pockenimpfpflicht galt in der Bundesrepublik ab 1949 etwa 26 Jahre lang. Das Bundesverwaltungsgericht urteilte 1959, der Impfzwang sei mit dem Grundgesetz vereinbar. Warum sollte das jetzt nicht auch gelten?
Ausschlaggebend war damals die mit etwa 30 Prozent sehr hohe Letalitätsrate, also Sterblichkeit innerhalb der Gruppe infizierter Menschen. Bei Corona liegt sie hingegen bei etwa bei 2,3 Prozent. Allein mit Hinweis auf die Sterblichkeitsquote ließe sich eine allgemeine Impfpflicht also kaum rechtfertigen. Auch bei den Masern konnte eine allgemeine Impfpflicht nicht durchgesetzt werden – dort lag die Letalitätsrate nur bei 0,1 Prozent. Allerdings: Anders als früher bei den Pocken oder den Masern geht es in der Corona-Pandemie nicht zuletzt um den Schutz vor Überlastungen des Gesundheitssystems. Zudem ließe sich mit dem Schutz nicht impfbarer Personen argumentieren.
Mit Blick auf die aktuellen Fallzahlen: Ließe sich eine allgemeine Corona-Impfpflicht rechtfertigen?
Ich denke nicht, dass eine Impfplicht für alle gegenwärtig zu rechtfertigen ist. Man darf nicht vergessen, dass wir nicht nur gegen das Virus, sondern auch gegen Akzeptanzprobleme kämpfen. Wir erleben gerade, dass eine gewisse Impfmüdigkeit eintritt, die jedenfalls in Teilen der Bevölkerung auch etwas mit mangelndem Vertrauen in die Vakzine zu tun hat.
Sie raten also zunächst zu Impfanreizen statt Impfpflichten?
Ja. Sollte das nicht genügen, haben wir natürlich ein Problem. Ich halte die Formulierung einer vermeintlichen „Impfpflicht durch die Hintertür“ für wenig glücklich. Aber das, was damit gemeint ist, ist durchaus ein probates Mittel. Von Menschen, die geimpft sind, geht eben ein geringeres Infektionsrisiko aus. Damit fällt die Legitimation für weitgehende Grundrechtseinschränkungen in Bezug auf diese Personengruppe weg. Und wer sein gutes Recht wahrnimmt, eine Impfung abzulehnen, muss sodann die Konsequenzen dieser Entscheidung tragen.
„Eine Unterscheidung zwischen Geimpften und Nicht-Geimpften kommt einer Impfpflicht gleich“, sagte Bundesinnenminister Horst Seehofer schon Ende des vergangenen Jahres. Beipflichten würden Sie dieser Aussage eher nicht, oder?
Nein, denn es geht hier um klassische Gefahrenabwehr. Und weil geimpfte Menschen nach Angaben des Robert-Koch-Instituts keine wesentliche Rolle im Pandemiegeschehen mehr spielen, ist kaum ersichtlich, wieso ihnen weiterhin schwerwiegende Beschränkungen auferlegt werden sollten. Das hat aus meiner Sicht nichts mit einer Impfpflicht zu tun.
Eine Impfung gegen Masern ist zwar nicht für alle verpflichtend, aber seit vergangenem Jahr zumindest für bestimmte Berufsgruppen. Ließe sich nicht zumindest eine damit vergleichbare Lösung auch in der Corona-Pandemie umsetzen?
Auf jeden Fall ließe sich so etwas leichter umsetzen als eine allgemeine Impfpflicht. Die Rechtfertigungsschwelle ist wesentlich geringer, wenn sie auf vulnerable Bereiche beschränkt wird. Auch und insbesondere deshalb, weil die Impfstoffe – jedenfalls die, die jetzt das Mittel der Wahl sind – nur sehr geringe Nebenwirkungen aufweisen.
Hier überwiegt also der Schutz für die Allgemeinheit gegenüber dem Recht auf körperliche Unversehrtheit des Einzelnen?
Richtig. Man muss ja sehen: es gibt zum Beispiel Personen, die nicht geimpft werden können. Denken Sie nur an die Kindergärten, den jungen Menschen dort steht schlichtweg kein Impfstoff zur Verfügung.
In den USA gibt es immer mehr Unternehmen, die eine Impfung oder einen Genesenenstatus zur Zulassungsvoraussetzung für Firmengebäude machen. Inwiefern ist das in Deutschland auch umsetzbar?
Das deutsche Arbeitsrecht ist da doch etwas anders gestrickt. Hier darf sich ein Arbeitgeber im Grundsatz nicht einmal nach dem Impfstatus seiner Mitarbeiter erkundigen. Abweichendes gilt für sensible Bereiche wie Krankenhäuser, Arztpraxen oder Heime. Solche Einrichtungen sind nach dem aktuellen Infektionsschutzgesetz sogar verpflichtet, alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um eine weitere Verbreitung von Krankheitserregern zu vermeiden. Ob das dann auch bedeutet, einen Impfnachweis verlangen zu können, ist bislang aber nicht abschließend geklärt.
Wie stehen Sie zu einer branchenspezifischen Impfpflicht, etwa für medizinisches Personal?
Auch in diesem Fall wird man genau hinsehen müssen: Um welche Berufsgruppen und Einrichtungen geht es? Wie groß ist der Publikumsverkehr? Welche Personen treten in Kontakt, sind sie besonders schutzbedürftig? All das sind Gesichtspunkte, die man bei der Vermessung des Direktionsrechts von Arbeitgebern gegenüber ihren Mitarbeitern in die Überlegungen einstellen muss. Prinzipiell gilt: Pauschallösungen sind selten der richtige Weg.
Medium: WirtschaftsWoche
Datum: 12.08.2021
Autor: Tobias Gürtler