Am 5. Januar erreicht der Höchststand des Rheins in Neuwied 7,21 Meter – genauso hoch stand der Rhein hier während der Flutkatastrophe an der Ahr 2021. In der Stadt einige Kilometer flussaufwärts der Ahrmündung arbeitet Wilfried Hausmann für die Stadtwerke im Hochwasserschutz. »7,21 Meter sind für uns unbedenklich«, sagt der gelernte Feuerwehrmann am Telefon mit Blick auf das Ereignis vom 5. Januar. »Etwas höher darf das Wasser noch steigen.« Etwa siebeneinhalb Kilometer Deich umgeben Neuwied. Die Sanierung von 860 Meter Deichanlage hat kürzlich knapp zehn Millionen Euro gekostet.
Der Dauerregen der vergangenen Wochen belastet Deutschlands Deiche vielerorts. Die Regenfälle haben die Böden durchweicht, sodass sie keine Flüssigkeit mehr aufnehmen können. Das Wasser steht nicht nur hoch, es steht auch lange. Teils sind Deiche gebrochen, etliche verfehlen die technischen Normen, die sie als Hochwasserschutzanlagen eigentlich erfüllen sollten. Und der Klimawandel wird immer öfter starken oder ausdauernden Regen bringen. »Wenn wir jetzt von durchweichten, standsicherheitsgefährdeten Deichen in Niedersachsen, Bremen und Sachsen-Anhalt hören, können die den anerkannten Regeln der Technik gar nicht entsprechen«, sagt Wasserbauingenieur Ronald Haselsteiner. Dem geltenden Deichbauregelwerk zufolge muss ein Deich so konstruiert sein, dass »Standsicherheit für alle relevanten Belastungen gegeben ist«.
Sand, Lehmboden oder im schlimmsten Fall Kriegsschutt
Dafür besteht er bestenfalls aus drei Zonen: einem Stützkern, zum Beispiel aus Sand. Einer Dichtungszone zur Wasserseite, zum Beispiel aus Lehm. Und einer Filterschicht zur Landseite, etwa aus einem Sand-Kies-Gemisch. Wenn das Wasser steigt, steuert der Dreizonendeich das eintretende Wasser so, dass es als Sickerwasser auf der anderen Seite am Fuß des Deichs austritt. Der Deich bleibt intakt: Weil er nicht durchweicht wird, kommt es weder zur Erosion des Stützkerns noch bricht die Böschung ab. Das Problem: Laut Haselsteiner sind die nun durchweichten Deiche nicht in drei Zonen unterteilt, wie der Stand der Technik vorsieht, sondern oft nur aus einer einzigen: Sand, Lehmboden oder im schlimmsten Fall Kriegsschutt, der noch mit sogenanntem Oberboden bedeckt wurde. »Solche homogenen Deiche können innerhalb von 24 Stunden oder wenigen Tagen durchnässt werden«. Landseitig trete dann relativ hoch auf der Böschung Wasser aus. Mitunter verrät auch dessen Farbe etwas über den Zustand einer Hochwasserschutzanlage.
Von Neuwied aus ein Stück rheinabwärts nahe der niederländischen Grenze entdeckte Holger Friedrichs Team vom Deichverband Bislich-Landesgrenze kürzlich bei einem Kontrollgang, dass nicht nur klares Wasser aus dem Deich lief, sondern auch trübes. »Das bedeutet, dass mit dem Sickerwasser auch Deichmaterial ausgeschwemmt wird«, sagt Friedrich. Er ist Geschäftsführer des Deichverbands. Der Deich sei »weich wie Wackelpudding«. Wenn nicht sofort Gegenmaßnahmen ergriffen würden, könne er brechen.
Der Abschnitt besteht aus einer einzigen Zone und ist letztlich ein Haufen Lehm. Pro Kilometer Deichsanierung rechnet Friedrich mit rund fünf Millionen Euro. So viel koste es, die instabilen Deiche abzutragen und einen neuen Deich mit drei Zonen zu errichten. Rund ein Drittel der 50 Kilometer langen Deichtrasse seines Verbands sei seit den Fünfzigerjahren nicht mehr saniert worden, sagt Friedrich. Manche der Deiche seien mehrere Hundert Jahre alt und müssten deswegen komplett neu aufgebaut werden. Sollen Deiche Städte und Ortschaften künftig vor Hochwasser schützen, müssen sie höher und breiter werden. Friedrich muss dafür Land hinzukaufen, mit Anliegern verhandeln, ökologische Ausgleichsflächen finden. Den Großteil der Kosten übernimmt Nordrhein-Westfalen. Auf SPIEGEL-Anfrage erklärt das Land, dass rund die Hälfte der etwa 530 Kilometer Deich im Land sanierungsbedürftig seien.
Verbreitete »Hochwasserdemenz«
Je nach Bundesland, Gewässergröße und Schiffbarkeit müssen Bund, Land, Kommune oder Deichverband die angrenzenden Deiche instand halten. Mindestens 5000 Kilometer Deich liegen in der Verantwortung der Länder. Dass die Anlagen marode sind, fällt vielerorts erst jetzt auf, bestätigt auch Feuerwehrmann Hausmann, der die Neuwieder Deiche seit Jahrzehnten beobachtet: »Wenn man nun plötzlich in den Nachrichten liest, dass Kommunen die Bäume auf ihren Deichen fällen, wurden die offensichtlich eine ganze Weile nicht gewartet.«
Von Ausnahmen abgesehen, sollen auf Deichen keine Bäume stehen. Ihre Wurzeln können dem Wasser Kanäle schaffen. Gleiches gilt, wenn Kaninchen mit ihren Tunnelsystemen, Ratten oder Biber den Erdwall aushöhlen. Je länger die Deiche nicht beansprucht würden, desto eher gerieten sie in Vergessenheit, sagt Hausmann. Gerade in den Kommunen, die noch so viele andere Aufgaben zu bewältigen hätten. »Hochwasserdemenz« nennt er dieses Phänomen. Dabei müssen die verantwortlichen Stellen eigentlich regelmäßig den Zustand des Bauwerks überprüfen. Deichschau heißt das. Wie häufig und nach welchen Kriterien darüber hinaus eine vertiefte Prüfung anstehe, entscheide letztlich die Aufsichtsbehörde, sagt Wasserbauingenieur Haselsteiner. Ein Zeitraum von 10 bis 20 Jahren sei in der Praxis üblich. Allerdings seien für Unterhaltung und Aufsicht teils die gleichen Behörden zuständig. »Da tritt nicht immer die erforderliche Hartnäckigkeit zum Nachholen von Versäumnissen zutage«, sagt Haselsteiner.
An anderer Stelle verzweifeln Deichverantwortliche schier an Behörden. In Holger Friedrichs Deichverband herrscht Unverständnis über die Bürokratie der Genehmigungsprozesse. Eine geotechnische Untersuchung des Deichabschnitts, für den sein Verband zuständig ist, habe schon in den Achtzigerjahren stattgefunden, erklärt Friedrich. Die Bauanträge reichte sein Verband wenig später ein. Trotzdem stecken die Baugenehmigungen für rund 15 Kilometer Deich noch immer im Planfeststellungsverfahren fest – seit mehr als 20 Jahren.
Langwierige Genehmigungsverfahren
In einem Abschnitt nahe der Stadt Wesel stehe ein denkmalgeschützter Bunker dem Neubau im Weg. In einem anderen beschäftigten Friedrichs Mitarbeitende sich damit nachzuweisen, dass sich in einem fälschlich klassifizierten Forellengewässer bei einer Deichschleuse keine Forellen befänden. Wenn Bauanträge mehrere Jahre unbearbeitet bei der Bezirksregierung lägen, müssten alle Gutachten neu eingeholt werden, das Prozedere beginne von vorn.
Auf Anfrage erklärt die Bezirksregierung, dass die Anträge in der Reihenfolge der Gefährdungslage bearbeitet werden. Ab Mitte der Nullerjahre sei bei den Behörden technisches Personal und Verwaltungspersonal abgebaut worden, erst als 2014 Personal zugewiesen worden sei, sei die Bearbeitung der Anträge verstärkt wiederaufgenommen worden. Zwischenzeitlich seien die teils veralteten Antragsunterlagen durch die Deichverbände überarbeitet worden. Die Kosten dafür habe das Land übernommen.
»Ich brenne für den Hochwasserschutz, aber unsere Arbeit ist maximal frustrierend«, sagt Friedrich. »Die Verfahren müssen dringend vereinfacht werden.« Länger andauernde Hochwasser könnten die maroden Deiche nicht aushalten. Viele hätten seit 70 Jahren keine Sanierung mehr erlebt. Ähnlich sei die Situation in zahlreichen anderen Gemeinden Nordrhein-Westfalens. Aber ein Deich ist oft auch eine Aushandlung von unterschiedlichen Interessen. In Mannheim etwa ist der Rheindeich zum Naherholungsgebiet geworden, mit alten Bäumen und schattigen Plätzen nahe dem Ufer. Eine Bürgerinitiative kämpft zusammen mit Umweltverbänden seit Jahren dafür, dass der alte Erdwall erhalten bleibt und sogenannte Spundwände eingezogen werden. Die dichtenden Stahlkonstruktionen sollen die Funktion des Deichs übernehmen, sodass die Bäume stehen bleiben können. Wie schädlich Bäume auf Deichen sind, ist umstritten.
Für Bund, Länder und Kommunen könnten nicht nur die anstehenden Bauprojekte teuer werden, sondern auch mögliche Schadensersatzforderungen der Bürger. Das Wasserhaushaltsgesetz verpflichte den Staat, Deiche und Dämme zu bauen und instand zu halten, sagt Markus Ogorek, Professor für Verwaltungsrecht an der Uni Köln. »Unterlässt er dies, greift die Amtshaftung.« Die Anwohnenden könnten dann auf Schadensersatz klagen – übrigens auch gegen Deichverbände, die als Körperschaften öffentlichen Rechts hoheitliche Aufgaben wahrnähmen. Der Staat müsse die Geschädigten in diesen Fällen so stellen, wie sie ohne Eintritt des schädigenden Ereignisses – also des Deichbruchs – stünden.
Wasser benötigt mehr Platz
»Wir benötigen mehr Flächen fürs Wasser«, sagt Insa Meinke, die am Helmholtz-Zentrum Hereon das Küsten- und Klimabüro leitet. »Das können zum Beispiel Polder sein, in die das überschüssige Wasser läuft.« Entlang von Flüssen müssten zudem Ackerböden und Siedlungsflächen renaturiert werden. Auenlandschaften etwa könnten dann ihre Fähigkeit als Schwamm zurückgewinnen. Und Häuser, die zu nahe am Wasser stehen, sollten immerhin so umgebaut werden, dass etwa die Elektronik und Heizung wassergeschützt sind und weiter funktionieren, wenn in Keller und Erdgeschoss die Brühe steht.
»Es wäre schon viel getan, wenn die Leute sich darüber bewusst sind, in was für ein Gebiet sie ihr Haus gerade bauen«, sagt Meinke. Andere Expertinnen und Experten gehen weiter. Der Hochwasserspezialist Uwe Müller aus dem Landesumweltamt in Sachsen plädiert dafür, Menschen umzusiedeln. Nach dem Jahrhunderthochwasser an der Elbe habe man das bereits gemacht, unter Erstattung aller Kosten.
Laut Bezirksregierung erfülle die Maßnahme in dieser Form die Fördervoraussetzungen nicht. Jedoch stehe sie in engem Austausch mit dem Deichverband, um eine mögliche Lösung zu finden, hieß es auf SPIEGEL-Anfrage.
Medium: DER SPIEGEL
Datum: 15.01.2024
Autorin: Franziska Schindler