Herr Ogorek, die AfD in Thüringen ist als „gesichert rechtsextremistisch“ eingestuft. Das hat ein Drittel der Wähler im Land aber nicht davon abgehalten, für die Partei zu stimmen. Jetzt kommen Sie noch mit einem „Extremismus-Monitor Thüringen“ daher. Warum?
Eigentlich genau deshalb. Wir haben mit dem Projekt vor allem zweierlei im Auge. Berufsbedingt habe ich sehr viel mit Juristinnen und Juristen zu tun. Dabei mir fällt auf, dass selbst in diesem informierten Kreis bei Einzelnen das Misstrauen gegenüber dem Verfassungsschutz und seiner Bewertung der AfD größer ist als gegenüber der Partei selbst. Deshalb stellen wir jetzt allen Interessierten eine unabhängige Belegsammlung für die Haltung des besonders präsenten Thüringer AfD-Verbands zur Verfügung. Es gibt zwar die von Ihnen erwähnte Einstufung des Erfurter Landesverfassungsschutzes. Weil sich die AfD dagegen aber wohlweislich nicht gewehrt hat, fand keine richterliche Überprüfung statt. Deshalb halten wir eine eigenständige wissenschaftliche Analyse für sinnvoll, die anders als die Begutachtung des Verfassungsschutzes frei einsehbar ist.
Und die zweite Perspektive?
Die Regierungsbildung. Nach den Wahlen vom Sonntagabend laufen jetzt die Überlegungen, wer mit wem koalieren könnte. Björn Höcke hat mehrfach betont, auf die bislang „nicht dialogbereiten“ Parteien CDU und BSW zugehen zu wollen. Und in der Thüringer CDU werden – wenn auch nur einzelne – Stimmen laut, man müsse das tun, weil man die stärkste Partei im Freistaat nach diesem Wählervotum nicht ignorieren dürfe. Da ist es gut, sich noch einmal vor Augen zu führen, mit wem man es zu tun hat.
Wie sind Sie vorgegangen?
Wir haben systematisch Aussagen aller relevanten AfD-Funktionäre in Thüringen aus frei zugänglichen Quellen ausgewertet, weit mehr als 1000 Beiträge. Darunter waren rund 150 Treffer mit potenziell verfassungsfeindlichen Inhalten. Sie stammen von Thüringer Europa-, Bundes- und Landtagsabgeordneten sowie Mitgliedern des Landesvorstands, aber auch von Vertretern aus den Kreistagen und Kreisvorständen. Es war uns wichtig, hier nach den Maßstäben guten wissenschaftlichen Arbeitens vorzugehen und nicht nur wenige Einzeläußerungen herauszureißen.
Nach welchen Kriterien haben Sie gefiltert?
Wir haben jeweils geprüft, ob Bestrebungen erkennbar sind, die sich gegen die Strukturprinzipien des Grundgesetzes – Menschenwürde, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit – richten. Als Wissenschaftler können wir die Verfassungswidrigkeit nicht letztverbindlich feststellen, das ist auch gar nicht unser Anspruch. Aber zur Urteilsbildung beitragen können wir mit methodisch gesicherten, argumentativ untermauerten Herleitungen schon, wobei wir auf gerichtliche Maßstäbe zurückgreifen. Diese legen wir im Extremismus-Monitor am Anfang jedes Kapitels explizit dar.
150 von 1000 Beiträgen – das ist, könnte man sagen, ein doch relativ kleiner Anteil.
Das war, ehrlich gesagt, auch mein erster Impuls. Aber stellen Sie sich einmal vor, wir hätten in einer Studie zur CDU, zur SPD oder einer anderen Partei dieselbe Trefferquote. Was glauben Sie, was da los wäre? In Wahrheit sind wir alle bei der AfD längst abgestumpft.
Ist das, was Sie da tun, eigentlich noch Wissenschaft – oder doch schon Politik?
Meinen Studierenden sage ich immer: Recht ist Politik in einem anderen Aggregatzustand. Als öffentlich finanzierte Wissenschaft ist es zwar nicht unsere Aufgabe, im politischen Tagesgeschäft mitzumischen. Aber wir sind natürlich auf die Verfassung verpflichtet und empfinden ihren Schutz als unseren Auftrag. Die wissenschaftlich fundierte Warnung vor Extremisten macht uns ganz sicher nicht zu einem politischen Akteur. Dieses Gefühl wollen wir bei den Thüringerinnen und Thüringern auch auf keinen Fall aufkommen lassen, noch dazu von einer westdeutschen Universität. Daher haben wir die Studie bewusst erst jetzt veröffentlicht, um nicht die Wahl zu beeinflussen.
Was nehmen Sie aus der Studie mit?
Es ist schon krass, zu sehen, wie gezielt und auf breiter Front die Thüringer AfD Demokratie und Rechtsstaat attackiert. In der Sache und in der Sprache. Zum Beispiel denunzieren AfD-Politiker ein Gesetz zur Demokratieförderung als „DDR 2.0“, sie machen die demokratischen Parteien als „Kartellparteien“ verächtlich, bezichtigen sie eines „Vernichtungswerks“ an Deutschland. Über die Bundesregierung wird gesagt, sie habe als „Hausmeister“ des „Hauses Deutschland“ versagt, indem sie wie „wildgeworden“, pauschal „Taugenichtsen“ und „Mietnomaden“ den Einzug ermöglicht habe. Solche Belege für Fremdenfeindlichkeit oder die Missachtung von Minderheiten sind vielleicht wenig überraschend, aber doch erschreckend. Insgesamt findet eine immer weitergehende Entgrenzung des Sagbaren statt.
Was haben Sie zum Dauerbrenner Antisemitismus herausgefunden?
Bei offen judenfeindlichen Äußerungen erlegt sich selbst der Landesverband um Höcke inzwischen Zurückhaltung auf wie auch bei der direkten, positiven Bezugnahme auf die NS-Zeit. Offenbar hat man gemerkt: Das verfängt zurzeit weder in Deutschland noch in Europa. Nicht umsonst ist die AfD aus dem ID-Bündnis der Rechtsaußen-Kräfte im Europaparlament geflogen, nachdem ihr Spitzenmann für Europa, Maximilian Krah, die Waffen-SS verharmlost hatte.
Höckes Spiel mit der SA-Parole „Alles für Deutschland“ wirkt aber nicht so, als hätte man dieses Propaganda-Instrument in die Kiste gepackt.
Das stimmt, und er nutzt die Parole in vielfältiger Weise. In unseren Belegen finden sich auch „Alles für Weimar“- oder „Alles für Alice“-Rufe, letzterer bezogen auf die AfD-Bundesvorsitzende Weidel. Aber ehrlich gesagt: Das ist das einzig wirklich eindeutige Belegbündel beim Antisemitismus der Thüringer AfD und scheint mir doch mehr eine Provokation nach dem Strafurteil gegen Höcke. Nur zur Erinnerung: Früher einmal sprach er etwa vom Holocaust-Mahnmal als einem „Denkmal der Schande“. Diese Ideologie wird er sicherlich nicht aufgegeben haben, er äußert sie nur verdeckter.
Haben Sie auch verdeckten Antisemitismus festgestellt?
Ja, wir haben etwa das Geraune von „globalistischen Eliten“ gefunden, die angeblich alle maßgeblichen Institutionen unterwandern und dominieren. Das sind deutliche Anklänge an die aus der NS-Zeit bekannten antisemitischen Erzählungen von einer „Verschwörung des Weltjudentums“. Aber, wie gesagt, das geschieht eher vorsichtig. Beim Islam – insbesondere in einer Vermengung mit allgemeiner Fremdenfeindlichkeit – ist die AfD weit weniger zimperlich.
Nach allem, was Sie sagen, kann die Frage an den Staatsrechtler nur lauten: Also doch ein Verbotsfahren?
Als ich die Ergebnisse unserer Studie vorab einigen politisch versierten Leuten gezeigt habe, bezeichneten sie die Fülle der Befunde als Augenöffner, weil man die abstrakt bekannte Radikalität der Thüringer AfD plötzlich noch einmal ganz plastisch vorgeführt bekommt. Dann kann man schon versucht sein, zu sagen: „Also, macht endlich Nägel mit Köpfen – und verbietet die Partei!“
Aber?
Das ist juristisch nicht so einfach. Es beginnt bereits mit der Unklarheit, ob man beim Bundesverfassungsgericht einen gezielt nur auf einen Landesverband gerichteten Verbotsantrag stellen kann. Aber selbst wenn, müsste man den Nachweis führen, dass die Partei in ihrer gesamten Breite verfassungsfeindlich ist. Ob die Anzahl unserer Belege dafür ausreicht, kann ich schlichtweg nicht beurteilen. Mit Blick auf die bisherige Rechtsprechung aus Karlsruhe bin ich allerdings eher skeptisch. Das am Ende zu entscheiden, ist aber nicht die Aufgabe von Wissenschaft. Für ein Verbot spricht zumindest, dass die zweite wichtige Voraussetzung neben der Verfassungsfeindlichkeit – nämlich die reale Chance zur Durchsetzung ihrer Ziele – eindeutig erfüllt ist, wenn eine Partei wie die Thüringer AfD im Parlament sogar die stärkste Kraft ist.
Also ein klares Jein.
Meine große Sorge sind „Halb so wild“-Reaktionen, die aus der erwähnten Grenzverschiebung durch die AfD im öffentlichen Diskurs resultieren. Demgegenüber zeigt unsere Studie: Die Ausfälle der AfD sind keine Ausrutscher, kein einmaliger krasser Exzess. Im Gegenteil. Das alles hat Methode.
Medium: Kölner Stadt-Anzeiger
Datum: 04.09.2024
Autor: Joachim Frank (Interview)