Herr Professor Ogorek, der Fall einer Frau, die gegen das Erzbistum Köln wegen Missbrauchs durch ihren Pflegevater – einen Priester – klagt, liegt etwa 40 Jahre zurück und ist damit verjährt. Wieso kann die Sache dennoch vor Gericht kommen?
Grundsätzlich muss man zwischen Verjährung im Strafrecht und im Zivilrecht unterscheiden. Der Anspruch auf Schmerzensgeld ist zivilrechtlicher Natur. Auch in den Fällen sexueller Gewalt galt früher eine dreijährige Verjährungsfrist. Als man sich des ganzen Ausmaßes von Missbrauch und der damit verbundenen Traumatisierungen bewusst wurde, hat der Gesetzgeber die Verjährungsfrist für Schadensersatzansprüche wegen Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung massiv heraufgesetzt: Sie beträgt heute nach Paragraf 197 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) 30 Jahre, beginnend mit dem Schadensereignis. Die Verjährung ist allerdings bis zum 21. Geburtstag des Opfers gehemmt. Richtigerweise gilt dies auch für Ansprüche, die vor dem Inkrafttreten dieser Sonderregelungen entstanden, aber zu diesem Zeitpunkt noch nicht verjährt waren.
Und wie wirkt sich die Verjährung nun auf den Prozess aus?
Es gibt im Jurastudium den alten Merksatz: Über Einreden muss man reden. Das heißt: Die Verjährung wird im Verfahren erst wirksam, wenn sich der Beklagte auf sie beruft. Ferner gilt: Auf die Verjährungseinrede kann verzichtet werden, wie Kardinal Rainer Woelki es unlängst in einem vergleichbaren Verfahren getan hat. Und schließlich: Selbst wenn die beklagte Partei die Verjährung geltend macht, kann das in Ausnahmefällen vom Gericht als „Verstoß gegen Treu und Glauben“ gewertet werden. So wie es ein öffentliches Interesse daran gibt, dass durch die Verjährung der Rechtsfrieden gewahrt wird, liegt es auch im öffentlichen Interesse, dass mit der Verjährung kein Rechtsmissbrauch betrieben wird.
Wann wäre ein solcher Rechtsmissbrauch gegeben?
Die Rechtsprechung ist bei der Annahme von Rechtsmissbrauch vor allem dann etwas großzügiger, wenn zwischen Gläubiger und Schuldner eine enge Nähebeziehung besteht, ein besonderes Vertrauensverhältnis oder eine Abhängigkeit. Klassischerweise betrifft das Beziehungen in der Familie oder zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Meines Erachtens wird man sagen können, dass zwischen der Kirche und den Gläubigen im Ansatz ebenfalls ein solches Näheverhältnis besteht. Dafür spricht etwa der pastorale Auftrag der Kirche und ihrer Amtsträger. Zudem verlangt das Kirchenrecht von den Gläubigen Gehorsam gegenüber den Lehren der Kirche. Etwas zugespitzt gesagt: „Mutter Kirche“ tritt ihren Gläubigen in gewisser Weise so gegenüber wie Eltern ihren Kindern. Wenn nun nach einer Missbrauchstat die Kirche – als Schuldnerin des Schadensersatz- oder Schmerzensgeldanspruchs – das Opfer durch Vertuschung, Aktenvernichtung oder durch psychischen Druck mittels einer religiösen Drohkulisse daran hindert, seine Ansprüche klageweise geltend zu machen, dann wird man nach meinem Dafürhalten einen Verstoß gegen Treu und Glauben annehmen dürfen.
Ein kirchliches System der Vertuschung ist durch die diversen Missbrauchsgutachten inzwischen flächendeckend belegt. Muss das, was Sie beschreiben, jetzt auch noch in jedem Einzelfall bewiesen werden?
Im Grunde ja. Derjenige, der einen Rechtsmissbrauch geltend macht, muss dies eigentlich darlegen und gegebenenfalls beweisen. Allerdings wird man bei einer flächendeckenden und systematischen Vertuschung von einer Vielzahl von Indizien ausgehen können, die einen Rechtsmissbrauch nahelegen. Dann muss die Gegenseite – hier also die Kirche – diese Umstände widerlegen. Das ist in der Sache auch gerechtfertigt, weil zwischen der Kirche auf der einen Seite und dem Missbrauchsopfer auf der anderen ein eklatantes Machtgefälle besteht. Wie soll der Einzelne dem kirchlichen Machtapparat denn von gleich zu gleich begegnen können? In Anbetracht dessen dürften die Gerichte bemüht sein, den Opfern entgegenzukommen. Aber meines Erachtens wäre die Kirche ohnehin gut beraten, freiwillig auf die Einrede der Verjährung zu verzichten.
Warum?
Weil sie sich mit ihrem Handeln ansonsten in einen eklatanten Widerspruch zu ihrem Selbstverständnis bringt. Die Kirche kann nicht von einer „Anerkennung des Leids“ sprechen und in dem Moment nichts mehr davon wissen wollen, in dem diese Anerkennung sie etwas kosten soll.
Sie könnte darauf verweisen, dass sie ein eigenes Verfahren zur finanziellen Anerkennung des Leids etabliert hat.
Richtig. Die Kirche sollte gleichwohl nicht den Versuch unternehmen, sich mit Verweis hierauf im Zivilprozess aus der Verantwortung zu winden. Es gibt im Bürgerlichen Recht nämlich auch den Grundsatz, dass die Verjährung „gehemmt“ ist, sobald Parteien über noch nicht verjährte Ansprüche verhandeln. Vor diesem Hintergrund ist zu überlegen, ob die Aufnahme von tatsächlichen und rechtlichen Begutachtungen durch ein Bistum nicht schon zu einer Hemmung der Verjährung geführt hat. Dies gilt auch dann, wenn den Missbrauchsopfern, die nicht verjährte Forderungen geltend machen, die gutachterliche Aufarbeitung in Aussicht gestellt wurde.
Aber bringt Kardinal Woelki, wenn er freiwillig auf die Verjährung verzichtet, nicht kirchliches Vermögen in Gefahr, das zu schützen er verpflichtet ist?
Ein guter Punkt. Tatsächlich steht – aus der Perspektive der Institution betrachtet – die Möglichkeit einer strafbaren Untreue im Raum. Aber: Wie im unternehmerischen Bereich geht es auch hier um eine Abwägung. Auf die Kirchen bezogen, ist die Frage nach der Vermögensbetreuungspflicht des Kardinals auch unter Berücksichtigung des kirchlichen Auftrags sowie etwaiger weiterer Reputationsschäden zu beantworten, die sich zum Beispiel in einer hohen Zahl von Kirchenaustritten niederschlagen. Wer, wenn nicht die Kirche, sollte denn an der Seite von Missbrauchsopfern stehen? Und was ist der größere Schaden für das Erzbistum? Der Geldverlust, der durch das Schmerzensgeld an das Opfer entsteht? Oder der Reputations- und Glaubwürdigkeitsverlust, der entsteht, wenn das Erzbistum sich dieses Geld „sparen“ will? Dies muss umso mehr gelten, als kirchliche Amtsträger die Täter waren. Im Ergebnis tut der Kardinal sich und der Kirche keinen Gefallen, wenn er sich auf die Verjährung beruft. Es stimmt: Für das Erzbistum kann das teuer werden. Aber so ist das nun mal.
Warum richtet sich die Klage eigentlich gegen das Erzbistum – und nicht gegen den Täter, der noch lebt und als Serientäter eine zwölfjährige Haftstrafe verbüßt?
Weil die Klage auf den Grundsätzen der so genannten Amtshaftung fußt. Darunter versteht man ein besonderes Haftungsregime für den Staat. Ein Amtsträger soll nicht persönlich haften müssen, damit er sich in der Ausübung seines Dienstes nicht gehemmt fühlt. Vor diesem Hintergrund befreit der Staat seine Amtsträger von der Haftung und tritt für die entstandenen Schäden ein. Diese Rechtskonstruktion wird auf die großen christlichen Kirchen übertragen, weil sie als Körperschaften des öffentlichen Rechts verfasst sind und deshalb in formaler Hinsicht eine gewisse Nähe zum Staat aufweisen. So erklärt sich, dass das eigentlich auf Beamte zugeschnittene Haftungsrecht auch für Fälle von Missbrauch durch kirchliche Amtsträger gilt.
Das von Kardinal Rainer Woelki in Auftrag gegebene „Gercke-Gutachten“ sieht das anders.
In der Juristerei gibt es nichts, wovon nicht auch das Gegenteil vertreten würde. Von der „herrschenden Meinung“, auf die Juristen sich gerne berufen, wird die Amtshaftung allerdings bejaht, und zwar – wie ich finde – zu Recht.
Bedeutet das umgekehrt: Das Missbrauchsopfer hat keinen eigenen Haftungsanspruch gegenüber dem Täter?
Genau so ist es. Der Anspruch des Opfers besteht gegenüber dem Dienstherrn des Täters. Das mag zunächst seltsam wirken, weil der Täter damit fein heraus zu sein scheint und das Opfer ausgerechnet von ihm keine Genugtuung verlangen kann. Aber wenn es um hohe Schmerzensgelder geht und man dem Opfer tatsächlich dazu verhelfen will, ist es sinnvoll, sich dieses Geld von der Institution zu holen, die es auch bezahlen kann.
Jetzt sprachen Sie vom einzelnen Beamten, der nicht ständig zittern soll, einen Fehler zu machen. Missbrauch ist aber doch kein „Fehler“, sondern eine vorsätzlich begangene Gewalttat, ja ein Verbrechen.
Deswegen greift hier dann die Möglichkeit, dass der Dienstherr – sprich: die Kirche – sich an den Täter hält und diesen in Regress nimmt, wie der Staat das bei einem Beamten tun könnte, der sich vorsätzlich oder grob fahrlässig falsch verhält.
Im konkreten Fall hat das Jugendamt dem Täter das Kind in Pflegschaft gegeben, das er später missbraucht hat. Sehen Sie da eigentlich auch eine Haftungspflicht des Staates?
Nur dann, wenn das Jugendamt selbst Amtspflichten zum Schutz des Opfers verletzt haben sollte, etwa wenn es konkrete Anhaltspunkte für den Missbrauch durch den Pflegevater gegeben hätte. Oder wenn das Amt gewusst hätte, dass der Mann pädophile Neigungen hat. Dies alles dürfte sich freilich nur sehr schwer nachweisen lassen.
Wurde vielleicht die Sorgfaltspflicht verletzt, weil das Amt bei einem Priester nicht so genau hingeschaut hat, ob man ihm Kinder anvertrauen kann?
Wenn das Priesteramt als eine Art Vertrauensvorschuss gewertet wurde, dann impliziert das ja bereits eine inhaltliche Auseinandersetzung und Prüfung, auch wenn diese unzureichend gewesen sein sollte oder auf falschen Annahmen basiert haben mag. Die allgemeinste Amtspflicht ist die Pflicht zu rechtmäßigem Handeln. Wer ein Kind missbraucht, verstößt gegen diese Pflicht. Das ist evident. Nun war der Missbrauchstäter in diesem Fall aber kein Mitarbeiter des Jugendamts, sondern eben ein Priester. Und damit sind wir wieder am Ausgangspunkt: Die Pflichtverletzung eines Priesters muss sich die Kirche als Dienstherrin zurechnen lassen.
Dann kommt es gar nicht mehr darauf an, dass der damalige Erzbischof, Kardinal Joseph Höffner, seinerseits die Eignung des Priesters für eine Vormundschaft offenbar nicht geprüft und das Zusammenleben des Priesters mit der Pflegetochter im Pfarrhaus nicht mehr eigens kontrolliert hat?
Doch, das wären dann Anhaltspunkte für eine mögliche weitere Pflichtverletzung.
Medium: Kölner Stadt-Anzeiger
Datum: 16.07.2023
Autor: Joachim Frank (Interview)