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Jan Böhmermann hat nicht strafbar gehandelt

Die Veröffentlichung der NSU-Akten des hessischen Verfassungsschutzes hat mediale Debatten um die Balance von Pressefreiheit und Staatswohlschutz ausgelöst. Eine Einordnung von Markus Ogorek.

 

Es war in gewisser Weise eine typische Böhmermann-Inszenierung, die das ZDF am vergangenen Freitag bot. Nach einigen kurzen Einlagen betrat ein Mitglied seines Ensembles die Bühne, getarnt als „Schlapphut“ sollte die Schauspielerin Auskunft geben über skandalöses Treiben im Landesamt für Verfassungsschutz Hessen (LfV). Eingeblendete Schlagzeilen sprachen von „Pleiten, Pech und Pannen“ sowie „verheerenden Zuständen“. Auch der Fall des an einem NSU-Tatort anwesenden Verfassungsschützers Temme wurde in Erinnerung gerufen. Sodann ging Moderator Böhmermann auf eine Petition ein, wonach zentrale Unterlagen umgehend veröffentlicht werden sollten, die Ergebnisse einer nach Enttarnung der Terrorgruppe durchgeführten Aktensichtung im LfV zum Gegenstand haben.

So weit, so unauffällig und vor allem typisch für das ZDF Magazin Royale. Daraufhin erklärte Böhmermann jedoch überraschend, jahrelanges Warten sei nicht mehr vonnöten; die als „geheim“ eingestuften Akten seien ihm nämlich zugespielt und in Kooperation mit der Initiative „FragDenStaat“ soeben im Internet veröffentlicht worden. In der Folge entbrannte eine Debatte um dem Inhalt der Akten, vor allem aber um die Rechtmäßigkeit ihrer Veröffentlichung.

Was ist geheim?

Wer verstehen will, warum die Offenlegung der NSU-Akten breit diskutiert wird, kommt nicht umhin, sich mit dem Geheimschutzrecht zu befassen. Zum Schutz sensibler Informationen bestehen vielfältige Rechtsgrundlagen. Die Verletzung von staatlichen Dienstgeheimnissen schützt das Strafgesetzbuch (StGB) namentlich in Paragraph 353b. Nur in Ausnahmefällen soll es überdies zur Einstufung als „Verschlusssache“ kommen. Typische Bereiche sind der Staatsschutz, die Nachrichtendienste sowie außenpolitische Positionen. Je nach Schutzbedürftigkeit der Einstufung variieren ihre Grade („Nur für den Dienstgebrauch“, „Vertraulich“, „Geheim“, „Streng Geheim“) und Fristen (zumeist zwischen 30 und 120 Jahre). Verschlusssachen sind zwar auch Geheimnisse im Sinne von Paragraph 353b StGB, für sie gelten aber ergänzende Aufbewahrungs- und Zugangsregeln, weshalb sie nur begrenzt gerichtlich sowie parlamentarisch verwendbar sind. Allzu großzügig mit der Einstufung von politisch brisanten Akten zu verfahren, ist ein oftmals – berechtigterweise – von Oppositionspolitikern erhobener Vorwurf. Die amtliche Sekretierung kann allerdings auch Legendenbildungen beflügeln, so im Falle der NSU-Akten.

Die NSU-Akten

Als der heutige hessische Ministerpräsident Boris Rhein 2014 die Leitung des Wiesbadener Innenministeriums übernahm, sah er sich mit Berichten über (vermeintliche) Verbindungen seines LfV zum NSU-Trio konfrontiert. Unter dem Eindruck eines Landtagsuntersuchungsausschusses ordnete er an, der Verfassungsschutz möge alle Akten der vergangenen knapp dreißig Jahre nach Hinweisen auf die Terrorgruppe sichten. Der Abschlussbericht stellt keine solchen Hinweise fest, weist jedoch zugleich auf gravierende organisatorische Defizite des Verfassungsschutzes vor allem in den 1990er-Jahren hin. Das LfV klassifizierte die Akten seinerzeit als „Geheim“ – und damit nach der zweithöchsten Verschlusssachen-Stufe. Hieran ist zunächst nichts auszusetzen, enthalten sie doch vielfältige Hinweise auf V-Personen. Zwar ist der Einsatz solcher Szeneangehörigen bereits seit Jahren Gegenstand einer Grundsatzdebatte zur Frage, wie weit der Staat Extremisten unterstützen darf. Ungeachtet dessen hat das Bundesverfassungsgericht dem Schutz von V-Personen aber einen überragend hohen Stellenwert eingeräumt: Würden künftige Quellen von zu viel Offenheit abgeschreckt, könne dies bereits gravierende Gefahren bergen.

Strafbare Journalisten?

Wer dies weiß, mag die Frage nach den Konsequenzen von Verschlusssache-Veröffentlichungen im Böhmermann‘schen Stil aus mehreren Perspektiven betrachten. Auch wenn das ZDF und „FragDenStaat“ die Dokumente teils geschwärzt haben, sind für Kenner der hessischen NSU-Aufarbeitung Bezüge leicht herzustellen. Dass sich jene Person strafbar gemacht hat, die den Bericht aus der Hand gab, bedarf kaum der Erörterung. Anders verhält es sich bei Böhmermann und seinen Kollegen.

Nachdem 2005 in der Zeitschrift „Cicero“ ein Artikel erschienen war, der ausführlich als Verschlusssache eingestufte Lageeinschätzungen des Bundeskriminalamts zitierte, und infolgedessen strafrechtliche Ermittlungen gegen die betreffenden Journalisten veranlasst wurden, traf das Bundesverfassungsgericht zwei Jahre später eine Grundsatzentscheidung. Die bloße Veröffentlichung einer Verschlusssache sei kein Geheimnisverrat, wenn sie zu journalistischen Zwecken erfolge. Die Karlsruher Richter stärkten die Pressefreiheit, auch weil sie auf quantitative Begrenzungen verzichteten und somit implizit die Publikation vollständiger Akten gestatteten. Eine entsprechende Ausnahme wurde 2013 in Paragraph 353b StGB ausdrücklich verankert. Wenn dieser Tage spekuliert wird, eine Strafbarkeit sei jedenfalls denkbar, falls die durchstechende Person überredet worden sei, geht dies an der Lebenswirklichkeit von Hinweisgeber-Presse-Beziehungen wie den Wertungen des „Cicero“-Urteils vorbei. Auch „FragDenStaat“ kann sich auf die journalistische Privilegierung berufen, stellt das Projekt neben einer Plattform für Behördenanfragen doch immer wieder Eigenrecherchen online.

Stellvertreter-Debatten

Wenn die Rechtslage eindeutig ist, wieso reagieren einige Akteure dann so heftig? Noch dazu, wo durch die Aufklärungsarbeit im Hessischen Landtag die wesentlichen Erkenntnisse der NSU-Akten ohnehin bereits bekannt waren? Einerseits, weil die Veröffentlichungen Illusionen zerstört haben. Viele NSU-Opferangehörige fühlen sich der teils unbefriedigenden Aufarbeitung des erlebten Staatsversagens hilflos ausgesetzt. Die „geheimen“ Akten gaben ihnen die Hoffnung, endlich komme alles ans Licht. Stets zur Mythenbildung beigetragen hatte dabei die, auch in der Sendung erwähnte, Einstufungsfrist von zunächst 120 Jahren, die immer wieder als Vertuschungsmaßnahme bewertet worden war. Dass für Akten mit V-Personen-Bezug oftmals der längstmögliche Zeitraum gewählt wird, ist allerdings Usus bei den Nachrichtendiensten und soll eine Enttarnung der Spitzel zu Lebzeiten ihrer engsten Angehörigen (etwa der Kinder) ausschließen. Obgleich dies nach der Karlsruher Rechtsprechung vermutlich zulässig ist, war die Befristung aufgrund des besonderen Zusammenhangs mit den NSU-Terrortaten zurecht als unangemessen empfunden und daher auf die 30-jährige Regel(mindest)frist abgesenkt worden.

Andererseits löst die Veröffentlichung der NSU-Akten deshalb heftigen Widerstand aus, weil in Hessen bis heute manche glauben, sie müssten Kritik am geheimen Nachrichtenwesen reflexhaft abwehren. Wenn die CDU-Landtagsfraktion zuvörderst den beteiligten Journalisten eine Überschreitung der Grenzen der Pressefreiheit und insofern strafbares Handeln vorwirft, geht dies an der Sache vorbei. Schließlich hatte das LfV nicht nur in Wiesbaden geschlampt, die dortigen Akteure versagten seinerzeit auch beim Aufbau der Schwesterbehörde in Thüringen, dem Heimatland des NSU. So richtig es ist, dass das LfV zwischenzeitlich Strafanzeige gestellt hat, um dem Geheimnisverrat aus eigenen Reihen nachzugehen, so treffend ist die Schwerpunktsetzung der mitregierenden Grünen. Ihre Landtagsfraktion bezogen sich in einer Reaktion auf den Inhalt der Akten, die „ein desolates Bild über den Zustand des Verfassungsschutzes in den damaligen Jahren“ zeichneten, der zu weitgehenden Verbesserungen verpflichtet habe.

Transparenz als Chance

Ob nun durch Aktenveröffentlichungen wie von Böhmermann und seinen Mitstreitern oder mittels effektiver Kontrolle der Nachrichtendienste durch Landesregierung und Landtag: Im Ergebnis beweist die aktuelle Kontroverse vor allem, dass Zustand und Wahrnehmung der Verfassungsschutzbehörden noch immer nicht zufriedenstellend sind. In Sachen Anteilnahme mit Betroffenen besteht beim LfV offenbar Entwicklungspotential. Die Hessen sollten sich hierbei am Bundesamt für Verfassungsschutz orientieren, dessen für den Rechtsextremismus zuständige Vizepräsidentin Felor Badenberg nicht müde wird zu betonen: „Ich habe mich damals so geschämt, und ich schäme mich heute noch“. Gelingt eine solche glaubhafte Außendarstellung, verlieren investigative Veröffentlichungen von allein ihren Reiz.
 

Medium: Frankfurter Allgemeine Zeitung
Datum: 03.11.2022
Autor: Markus Ogorek (Gastbeitrag)