Reiner Haseloff, Erster Vizepräsident des Bundesrates und Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, klang alles andere als erfreut, als er am Mittwochmorgen mit WELT telefonisch über die jüngste Bundesratssitzung am vergangenen Freitag sprach - und vor allem über das, was in den Stunden danach geschah. Zuerst hatte der Bundesrat einstimmig die vom Bundeskabinett beabsichtigten Änderungen der Covid-19-Schutzmaßnahmen-Ausnahmenverordnung und der Coronavirus-Einreiseverordnung verabschiedet, wodurch sich wesentliche Grundrechtseingriffe des Staates ab sofort nach aktuellen Empfehlungen des Robert- Koch-Instituts (RKI) und es Paul-Ehrlich-Instituts (PEI) richten. CDU-Mann Haselhoff hatte noch kurz vor der Abstimmung Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) aufgefordert, keine politischen Anweisungen an die Behörden zu geben. Lauterbach wiederum sagte zu, das nicht zu tun.
Ein paar Stunden nach der Sitzung waren dann aber wegweisende Empfehlungen der Behörden verändert: Das RKI verkürzte den Genesenenstatus von sechs auf drei Monate, Geimpfte, die Johnson & Johnson als Impfstoff wählten, gelten nicht mehr als vollständig geimpft. Neue Grundrechts-Regelungen via Homepage-Aktualisierung.
„Wissenschaft darf nicht instrumentalisiert werden“
Und das, daraus machte Haseloff im Gespräch mit WELT kein Geheimnis, stößt ihm übel auf. „Es darf nicht sein, dass die Wissenschaft instrumentalisiert wird, um politisch etwas durchzusetzen”, sagte er. Die Politik müsse aufpassen, dass sie nicht weiter an Glaubwürdigkeit verliere: „So weitreichende Entscheidungen, wie sie das RKI getroffen hat, erfordern Abstimmung, und sie müssen auf einer soliden wissenschaftlichen Grundlage erfolgen.”
Er habe da seine Zweifel, wenn er sehe, wie in Sachen Genesenenstatus und Impfgültigkeit entschieden und kommuniziert wurde: „Wir müssen versuchen, Menschen mit Argumenten zu gewinnen und nicht, indem wir sie überrumpeln.“
„Klare Kommunikation wichtig“
Deutliche Kritik am Vorgehen Lauterbachs äußerte auch Saarlands Ministerpräsident Tobias Hans (CDU) im WELT-Interview: „Nach all den langen Monaten in der Pandemie ist eine klare Kommunikation umso wichtiger“, sagte Hans. „Hier muss man vorsichtig und sensibel vorgehen.“ Zwar sei es richtig, sich bei politischen Entscheidungen zur Pandemiebekämpfung nach den jeweils neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen zu richten. Doch es reiche dafür nicht aus, „eine Regeländerung auf seine Website zu schreiben, wie das gerade geschah“, so Hans. Das RKI müsse seine Entscheidung „klar erklären“.
Auch juristisch erscheint das Vorgehen umstritten: Markus Ogorek, Direktor des Instituts für Öffentliches Recht und Verwaltungslehre der Universität zu Köln, sieht einen bloßen Verweis auf die Internetseiten nachgeordneter Bundesbehörden „äußerst kritisch“. Er spricht von einem „zweifelhaften Vorgehen“. Wichtige Entscheidungen müssten vom Parlament oder zumindest im Verordnungswege von der Exekutive getroffen werden.
In einem solchen Fall bestünden keine Zweifel an der demokratischen Legitimation, und die getroffenen Entscheidungen würden in einem formalisierten Verfahren erlassen, das in einer amtlichen Bekanntgabe des Rechtssatzes mündet: „Auch wenn nicht alle Bürger regelmäßig das Bundesgesetzblatt oder den Bundesanzeiger studieren, so müssen sie sich doch darauf verlassen können, dort die für sie verbindlichen Anordnungen zu finden. Die amtliche Bekanntgabe ist keine Bagatelle, sondern Ausdruck formalisierter Rechtsstaatlichkeit und stärkt die Verbindlichkeit der Normen.”
Frage nach der Durchsetzbarkeit
Ganz abgesehen davon stellt sich die Frage, wie die neuen Regelungen in der Praxis durchgesetzt werden sollen. Bernd Ohlmann vom Handelsverband Bayern beschwert sich über die „Nacht- und-Nebel-Aktion“. Der Verband sei immer noch nicht offiziell von den Behörden über die Änderung informiert worden. Erst durch verzweifelte Anrufe von Verbandsmitgliedern sei man auf das Thema aufmerksam geworden: „Man lässt uns wieder am ausgestreckten Arm verhungern.“
Die Neuregelung habe massive Auswirkungen auf den Betrieb, da Unternehmen zur Wahrung der 3G-Pflicht am Arbeitsplatz zusätzliche Tests für ihre nun als nicht mehr immunisiert geltenden Mitarbeiter besorgen müssten und man bei Kunden das Datum des Genesenenzertifikats oder die Art des Impfstoffs genau kontrollieren müsse.
„Anreiz, sich impfen zu lassen“
An Gesundheitsminister Lauterbach perlt die Kritik bislang ab. Ein Sprecher erklärte auf der Bundespressekonferenz am Mittwoch schlicht, die Regelung mit den plötzlich so bedeutsamen Empfehlungen von PEI und RKI sei von Bundestag und Bundesrat in der vergangenen Woche im Wissen um die Entscheidung der Ministerpräsidentenkonferenz verabschiedet und direkt umgesetzt worden.
Man könne die Regelung auch als „Anreiz sehen, sich impfen zu lassen”, sagte er. Auf WELT-Anfrage bestätigte das Ministerium, dass die Änderungen auch rückwirkend für bereits ausgestellte Nachweise gelten würde. Eine Übergangsfrist? Gibt es nicht.
Dabei ist der gesamte Ansatz auch wissenschaftlich heikel. Schon Virologe Hendrik Streeck, Mitglied des Expertenrats der Bundesregierung, hatte am Dienstag gegenüber WELT scharfe Kritik an dem Vorstoß geübt. Dass der Genesenenstatus in Deutschland anders als im Ausland auf drei Monate verkürzt wird, „ist aus meiner wissenschaftlichen Erkenntnis nicht erklärbar”, so Streeck. Der Epidemiologe Alexander Kekulé erklärte nun gegenüber WELT, eine durchgemachte Infektion mit einer früheren Variante schütze bei Omikron zwar kaum gegen die Ansteckung, aber sehr wahrscheinlich recht gut gegen schwere Verläufe.
Auch aus seiner Sicht gibt es daher keine wissenschaftliche Begründung dafür, dass der Schutz vor Ansteckung durch Omikron bei Geimpften neun Monate, bei Genesenen aber nur drei Monate halten solle: „Die Verkürzung des Genesenenstatus ist auch deshalb problematisch, weil sich in den kommenden Wochen sehr viele Menschen mit Omikron infizieren werden, die dann natürlich gegen eine weitere Infektion mit Omikron besser geschützt sind als die Geimpften.”
Und ob die Menschen gegen eine möglicherweise im Herbst auftretende, ganz neue Variante besser durch Impfung oder eine durchgemachte Infektion geschützt sein werden, sei „heute überhaupt nicht absehbar”. Immerhin: Die Aberkennung des Impfstatus für mit Johnson & Johnson Geimpfte hält er für „schon lange überfällig“, da die Impfstoffe nicht ausreichend schützen würden.
Fakt ist: Aus verschiedenen Staatskanzleien heißt es, dass das Thema noch nicht ad acta gelegt sei. Teils wird offen kritisiert, teils hinter vorgehaltener Hand.
Der hessische Regierungssprecher Michael Bußer etwa sagte WELT, Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU) werde die Angelegenheit bei der nächsten Ministerpräsidentenkonferenz am Montag ansprechen: „Das Problem ist hier die Kurzfristigkeit, und man darf nie vergessen, dass es Menschen betrifft, die dadurch innerhalb kürzester Zeit erhebliche Einschränkungen haben.” Bouffier plädiere dafür, dass derartige Veränderungen „mit einer gewissen Karenzzeit” vorher angekündigt werden, „um sich auf solche neuen Gegebenheiten einstellen zu können und dass diese auch vom Bundesgesundheitsminister entsprechend begründet werden”.
Bouffiers Ministerpräsidentenkollege Haseloff hat derweil für sich bereits eine Entscheidung getroffen, wie er am Mittwochmorgen sagte: „Ich bin nicht mehr bereit, ein Verfahren im Bundesrat mitzutragen, bei dem man die konkreten Konsequenzen nicht kennt.“
Medium: DIE WELT
Datum: 19.01.2022
Autorin: Tim Röhn und Benjamin Stibi