DARMSTADT/MAINZ. Auch im verschärften Lockdown bleiben Gottesdienste in Kirchen, Moscheen und Synagogen erlaubt. Das bestätigte David B. Freichel von der rheinland-pfälzischen Staatskanzlei. Laut Beschluss der Ministerpräsidentenkonferenz mit der Bundeskanzlerin gelten die vor Weihnachten festgelegten Auflagen vorerst bis 31. Januar weiter: anderthalb Meter Abstand zwischen den Gottesdienstbesuchern, Mund-Nasen-Schutz, Singverbot. Details können sich noch in den Landesverordnungen ändern.
Kritiker empören sich über die Versammlungsmöglichkeit für Gläubige, während Sportanlagen, Theater und sogar Schulen geschlossen bleiben. Aber so eine Abwägung gestatte das Grundgesetz nicht, erklärt der hessische Regierungssprecher Michael Bußer: „Zusammenkünfte von Glaubensgemeinschaften unterliegen einem besonderen grundrechtlichen Schutz.“ Die in Artikel 4 festgeschriebene Religionsfreiheit gelte ohne Vorbehalt, erläutert Prof. Markus Ogorek, Leiter des Instituts für Öffentliches Recht und Verwaltungslehre der Kölner Universität. Im Klartext: Die freie Religionsausübung findet ihre Grenzen nur in einem anderen Grundrecht.
Aber ist der Schutz von Leib und Leben (Artikel 2) nicht genau solch ein verfassungsrechtlich verbriefter Anspruch? Ja, sagt Ogorek, bis 2020 Präsident der European Business School (EBS) in Wiesbaden. Gerade deshalb müsse der Staat „einen möglichst schonenden Ausgleich zwischen beiden konkurrierenden Verfassungsgütern schaffen“. Zum allgemeinen Gesundheitsschutz dienten nicht nur die Hygieneauflagen für den Gottesdienst, sondern auch die Erfassung der Kontaktdaten aller Besucher, so Bußer. „Uns kommt es darauf an, dass der Gesundheitsschutz gewahrt ist. Wie die Kirchen das vor Ort hinkriegen, ist ihre Sache“, ergänzt David B. Freichel.
Die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) rät ihren Gemeinden, „sorgsam abzuwägen, ob sie an den nächsten Sonntagen Präsenz-Gottesdienste abhalten“. Das sagte Pfarrer Stephan Krebs, Leiter der EKHN-Öffentlichkeitsarbeit. Ausdrücklich werbe die EKHN dafür, das Angebot virtueller Gottesdienste auszubauen. Mittlerweile seien rund ein Drittel der 1100 Gemeinden in digi talen Techniken geschult.
„Wir wollen mit unserer Freiheit verantwortlich umgehen“, betont der EKHN-Sprecher. „Vor Weihnachten gab es heiße Diskussionen, was das für die Gottesdienste bedeutet.“ Im Dekanat der Stadt Mainz hätten sich die meisten Gemeinden für Verzicht entschieden. Die Kirchenleitung signalisiert, dass sie es im Zweifelsfall auch weiterhin auf alternative Angebote wie Hausandachten oder gestreamte Gottesdienste setzt.
Eine aktuelle Umfrage des Bistums Mainz macht die Grenzen deutlich. „Die Antworten lassen erkennen, dass das Streamen von Eucharistiefeiern eher als Notbehelf empfunden wurde“, erklärt Tobias Blum. Wenn Gottesdienste im Internet übertragen werden, müsse es höherwertige Formate „mit interaktiven Elementen“ geben. Dennoch: Das Bistum appelliert vor allem an betagte Gläubige und andere Risikogruppen, „sorgfältig die persönlichen Risiken eines Gottesdienstbesuchs abzuwägen.“ Aber das sei nichts Neues, betont Blum. Bereits in seinem Weihnachtsbrief habe Bischof Peter Kohlgraf auch die Gemeinden aufgefordert, bei Präsenzgottesdiensten „gewissenhaft“ alle Hygienevorschriften einzuhalten, aber auch „kreative Ideen“ für alternative Formate zu entwickeln.
Die EKHN wiederum reagiert besonders sensibel auf die Gottesdienst-Debatte, da sie in der Öffentlichkeit fälschlicherweise immer wieder mit evangelikalen Freikirchen in Verbindung gebracht wird. Allein rund um Weihnachten gab es zwei Corona-Verstöße solcher Freikirchen: In Essen und Herford versammelten sich jeweils knapp 100 Gläubige, um ohne Maske und Mindestabstand zu singen und beten. „Hier wäre ein Bußgeld nach Maßgabe des Infektionsschutzgesetzes geboten“, findet Rechtsprofessor Ogorek. „Dennoch sollte nicht vergessen werden. Der allergrößte Teil der Religionsgemeinschaften ist sich seiner Verantwortung bewusst.“
Medium: Wiesbadener Kurier
Datum: 07.01.2021
Autorin: Monika Nellessen