In Deutschland folgen Bundestagswahlen einem klaren Zeitplan: Gewählt wird - neben der Briefwahl - am Wahltag von 8 bis 18 Uhr, dann endet die Wahlzeit und erst dann dürfen die ersten Wahlprognosen veröffentlicht werden. "Durch diese Regelung soll verhindert werden, dass andere Wahlberechtigte in ihrem Stimmverhalten beeinflusst werden", sagte Florian Burg, Pressesprecher des Bundeswahlleiters. Geregelt ist dies in § 32 des Bundeswahlgesetzes. In Berlin kam es aufgrund von fehlenden Wahlunterlagen und organisatorischen Problemen zu langen Warteschlangen vor etlichen Wahllokalen. Einige Bürgerinnen und Bürger konnten ihre Stimme erst nach 18 Uhr abgeben, was aber rechtens ist, wie der Bundeswahlleiter per Twitter klarstellte (mehr dazu im DW-Faktencheck).
Trotzdem veröffentlichten die Medien Punkt 18 Uhr Prognosen, die auf Nachwahlbefragungen beruhten. Stellt diese zeitliche Überlappung einen Regelbruch dar? Einige Nutzer auf Twitter stellen sich diese Frage: "Darf es um 18:00 Prognosen geben, wenn in Berlin die Leute noch in der Schlange stehen? Wegen des Themas Wahlbeeinflussung." Andere gehen deutlich weiter: "Die Wahl ist ungültig. Es wurden Prognosen und Hochrechnungen veröffentlicht, obwohl in Berlin noch gewählt wurde", schreibt einer, ein anderer schimpft: "Eigentlich müsste die Wahl in Berlin für Ungültig erklärt werden!!!! Wahlbetrug am Deutschen Volk!!!!!"
"Es ist wichtiger, dass gewählt werden kann"
Falsch. Die verspätete Stimmabgabe und die zeitliche Überlappung stellen keinen Fall von Wahlbetrug dar und sind auch kein Grund, die Bundestagswahl für ungültig zu erklären. Laut Bundeswahlordnung sind "Wähler zur Stimmabgabe zuzulassen, die vor Ablauf der Wahlzeit erschienen sind und sich im Wahlraum oder aus Platzgründen davor befinden". Der Fall von Verzögerungen ist somit gesetzlich geregelt. Doch was bedeutet dies für die Veröffentlichung der Prognosen? "Dies ist eine Abwägung verschiedener Vorgaben", sagte Florian Burg am Wahlabend gegenüber der DW. "Es ist wichtiger, dass gewählt werden kann." Die obersten Wahlhüter in Deutschland stellen somit das Wahlrecht über die Vorgabe, wonach Wahlprognosen keine Wahlbeeinflussung bewirken dürfen.
Öffentliches Interesse wiegt schwerer
Staatsrechtler Markus Ogorek sagt, dass sich dieser Fall in einem Graubereich bewegt. "Es ist jedenfalls kein harter Wahlrechtsverstoß", so der Direktor des Instituts für Öffentliches Recht und Verwaltungslehre an der Universität zu Köln auf DW-Anfrage. Mit den Regelungen zur Veröffentlichung der Prognosen solle vor allem verhindert werden, dass Wähler strukturell und in großem Maße beeinflusst würden, erklärt Ogorek. Es hätte allerdings "nicht im Verhältnis zum großen und legitimen Interesse der Bevölkerung" gestanden, die Zahlen wegen einiger noch länger geöffneter Wahllokale weiter zurückzuhalten.
Ogorek ergänzt: "Selbst wenn der unwahrscheinliche Fall eintritt und ein Gericht hier einen Verstoß gegen das Wahlrecht annimmt, ist damit noch keine erfolgreiche Anfechtung verbunden." Dazu müsse auch eine tatsächliche Beeinflussung der Menschen, die nach 18 Uhr abgestimmt hatten, nachweisbar sein. Vor allem aber greife die Wahlanfechtung erst, wenn sich durch einen Verstoß die Sitzverteilung im neuen Bundestag ändern würde. "Klagen werden daher kaum Aussicht auf Erfolg haben", so Ogorek.
Fall wird aufgearbeitet
Am Wahlabend sagte die Berliner Wahlleiterin Petra Michaelis dem Sender RBB, sie gehe davon aus, dass die Wähler noch unbeeinflusst ihre Stimmen abgeben konnten und sich daraus keine Wahlfehler ergeben haben. Der Bundeswahlleiter habe von der Landeswahlleitung in Berlin einen detaillierten Bericht über die beschriebenen Vorgänge angefordert, sagte Florian Burg. Es gebe keine rechtlich vorgegebene Frist für diesen Bericht, die Behörde rechne aber mit einer Antwort "im Laufe der Woche". Die Landeswahlleitung Berlin war bis zur Veröffentlichung an diesem Montag nicht für eine Stellungnahme erreichbar.
Medium: Deutsche Welle (dw.com)
Datum: 27.09.2021
Autoren: Uta Steinwehr und Joscha Weber