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„Ein Ausdruck der Verzweiflung“

Der Kölner Staatsrechtler Markus Ogorek ist skeptisch, dass die Corona-Notbremse des Bundes verfassungsrechtlich Bestand haben wird. Mit ihm sprach Bernd Eyermann.

 

Sollte sich Karlsruhe mit der Notbremse befassen?

Professor Markus Ogorek: Es gibt gute Gründe dafür, denn die getroffenen Regelungen sind zum Teil sehr problematisch.

Zum Beispiel?

Ogorek: Die verschiedenen Schwellenwerte – 100 für nächtliche Ausgangssperren, 165 für die Schulen, 150 für Click and Meet – sind zwar nicht willkürlich, aber sie sind Ergebnis eines demokratischen Kompromisses. Dahinter steht nicht die reine Wissenschaft.

Viel Kritik gibt es an den Ausgangsbeschränkungen.

Ogorek: Ich glaube, zu Recht. Es geht ehrlicherweise nicht darum zu verhindern, dass sich Menschen nachts auf der Straße treffen, sondern darum, den Menschen den Nachhauseweg abzuschneiden, wenn sie Freunde und Bekannte treffen. Die Maßnahmen treffen damit vor allem junge Leute, die abends keine Partys feiern, sich nicht zu Hause treffen und keine Netflix-Abende veranstalten sollen. Man bringt sie mit solchen Maßnahmen in Versuchung, in der Wohnung des Gastgebers zu übernachten. Das ist keine sinnvolle Regelung. Wenn es zudem erlaubt ist, von 22 Uhr bis Mitternacht draußen allein spazieren zu gehen, dann schafft das enorme Vollzugsprobleme. Denn für den Polizisten auf der Straße ist nicht erkennbar, ob jemand kurz vor Mitternacht wirklich bloß frische Luft schnappen will – oder von einem Treffen nach Hause kommt.

Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier hat gesagt, Ausgangssperren seien problematisch und dürften nur das letzte Mittel sein.

Ogorek: Dem ist beizupflichten! Vor diesem Hintergrund wäre es vermutlich sinnvoll gewesen, zunächst den Vollzug der geltenden Corona-Schutzregeln zu verbessern. Wir alle kennen doch aus unserem Alltag die Bilder von vollen Parks, ganz ohne Maske und Abstand.

Nach der Bundes-Notbremse sind Arbeitnehmer verpflichtet, das Angebot des Arbeitgebers zum Homeoffice anzunehmen. In Ordnung?

Ogorek: Nur zum Teil. Das ist zwar eine konsequente Regelung, weil zum Beispiel in Großraumbüros und Produktionsstätten möglicherweise ein erhöhtes Infektionsrisiko entsteht. Aber auch in diesem Bereich finden sich weitgefasste Ausnahmen. Als Präsenz-Begründung genügt heimischer Kinderlärm oder eine schlechte Internetleitung im Homeoffice, schon entfällt diese Verpflichtung. Auch hier gilt: Gut gemeint, schlecht gemacht.

Kann man Schulschließungen in der ganzen Republik ab einer bestimmten Inzidenz festlegen? Widerspricht das nicht dem Bildungsföderalismus?

Ogorek: Hier geht es um die Frage: Was geht vor, Infektionsschutzrecht oder Schulrecht, also Bund oder Land? Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags sagt: Die Maßnahmen dienen dem Ziel, Infektionen zu vermeiden, haben also nichts mit klassischer Kultuspolitik, etwa Lehrplänen oder Noten, zu tun. Deshalb kann der Bund in die Schulen hineinwirken.

Wie sieht es denn mit der Schließung von Geschäften aus? Müsste es da mehr regionale Differenzierungen geben?

Ogorek: Das generelle Problem ist: Die Bundes-Notbremse ist quasi der eiserne Besen, von nun an wird nicht mehr genau hingeschaut, sondern nur noch kräftig gekehrt. Es gibt keinen Spielraum für regionale Differenzierung, der Bund pauschaliert und generalisiert. Das ist auch Ausdruck politischer Verzweiflung, weil der Bund offenbar mit seinem Latein am Ende ist und der Ministerpräsidentenkonferenz nicht mehr traut.

Der Bund will so viele Menschenleben wie möglich retten.

Ogorek: Richtig. Der Schutz von Menschenleben ist ein hohes Verfassungsgut. Bundestagspräsident Schäuble hat aber zu Recht darauf hingewiesen: Absolut ist dieser Lebensschutz nach dem Grundgesetz nicht.

Ist es in solch einer Situation überhaupt möglich, verfassungsrechtlich sichere Lösungen zu schaffen?

Ogorek: Lebensschutz und Freiheitsrechte standen sich seit Gründung der Bundesrepublik wohl noch nie so offen gegenüber. Hier wirksame, aber dennoch verhältnismäßige Maßnahmen zu ergreifen, verlangt der Politik sehr viel ab. Der Rechtsstaat muss sich aber auch in Krisenzeiten bewähren, Freiheit steht nicht unter Pandemie-Vorbehalt. Das Anknüpfen an starre Inzidenzwerte, die schwache Durchsetzung bisheriger Regeln und nunmehr die Anordnung vergleichsweise undifferenzierter neuer Maßnahmen – all das trägt vermutlich wenig dazu bei, die Akzeptanz in der Bevölkerung aufrechtzuerhalten.
 

Medium: Bonner General-Anzeiger
Datum: 23.04.2021
Autor: Bernd Eyermann