Düsseldorf Die Aufklärung des größten deutschen Steuerskandals Cum-Ex wird von einem beispiellosen Justizeklat erschüttert. Wie das Handelsblatt erfuhr, hat der ehemalige nordrhein-westfälische Justizminister Peter Biesenbach (CDU) eine Dienstaufsichtsbeschwerde gegen den Leiter der Kölner Staatsanwaltschaft und dessen Stellvertreter eingereicht. Der Ex-Minister kritisiert, das Verfahren werde von der zuständigen Strafverfolgungsbehörde ausgebremst: Die Verantwortlichen hätten die Cum-Ex-Abteilung mit zu wenig Personal und Ressourcen ausgestattet. Er sieht die Gefahr einer „Strafvereitelung im Amt“.
Tatsächlich dauern einzelne Ermittlungen so lange, dass Beschuldigte wegen der langen Verfahren mit niedrigeren Strafen davonkommen könnten. Biesenbach kritisiert zudem, dass er in seiner Amtszeit der Staatsanwaltschaft zusätzliche Ermittler geradezu aufdrängen musste. Seinem Nachfolger, NRW-Justizminister Benjamin Limbach (Grüne), formuliert er in einem Brief seine Befürchtung, dass der Leiter der Staatsanwaltschaft Köln und sein Vertreter die Ermittler „weder stützen noch unterstützen.“ Limbach weist das zurück. „Aus Sicht des Ministeriums der Justiz bestehen auch mit Blick auf die zeitlichen Abläufe keine Anhaltspunkte dafür, dass die Staatsanwaltschaft Köln in zu geringem Umfang Anklagen erhöbe“, sagte er. Ein Sprecher der Staatsanwaltschaft Köln wollte sich zu den Vorwürfen nicht äußern.
0 Jahre lang war der Griff in die Steuerkasse so normal, dass sich das ganze Spektrum der nationalen und internationalen Finanzwelt beteiligte. Traditionsbanken wie M.M. Warburg in Hamburg, HSBC Trinkaus & Burkhardt in Düsseldorf und J. Safra Sarasin in Basel betrieben Cum-Ex-Geschäfte genauso wie internationale Finanzriesen wie Macquarie und Barclays oder Landesbanken unter anderem aus Hamburg, Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen. Bei der Deutschen Bank ist die Zahl der Beschuldigten dreistellig, darunter Spitzenmanager.
Cum-Ex-Skandal: „Die Aufklärung steht noch immer am Anfang“
Staatsanwälte nennen Cum-Ex einen bandenmäßigen Betrug. „Cum-Ex-ist fraglos einer der größten kriminellen Fischzüge der Bankengeschichte“, sagt Christoph Spengel, Steuer-Professor an der Universität Mannheim. „Die Aufklärung steht noch immer am Anfang.“ Die Staatsanwaltschaft Köln gilt als mit Abstand wichtigste Aufklärungsbehörde in dem Fall: 117 der bundesweit etwa 130 bekannten Cum-Ex-Verfahren werden in der Domstadt geführt. 1592 der mehr als 1700 Beschuldigten stehen in Akten mit einem Stempel aus Köln.
Die Oberstaatsanwältin und ihr Team klagten rund ein Dutzend Personen an. Es gibt vier Strafurteile. Der Bundesgerichtshof hat alle Urteile bestätigt, die ihm zur Überprüfung vorlagen. Die gebürtige Dortmunderin kam 2002 zur Staatsanwaltschaft Köln. Anfangs beschäftigte sie sich mit Drogenabhängigen und Kleinkriminellen, 2004 wurde sie in die Steuerabteilung versetzt. Brorhilker war damals 31 Jahre alt – und fand nach ihrem Beruf auch ihre Berufung. Seit ihrem Studium hatte sich Brorhilker vorgestellt, einmal die ganz großen Verbrecher zu jagen. Während sie gegen Kriminelle in der Baubranche und Umsatzsteuerbetrüger ermittelte, festigte sich ihre Überzeugung: Hier ging es nicht um Schummeleien, sondern um organisierte Kriminalität.
Weltweite Razzia, palettenweise Akten
Im Frühjahr 2013 fand die Staatsanwältin in einer Akte des Bundeszentralamts für Steuern einen Vorgang, bei dem der Staat beinahe um mehrere Hundert Millionen Euro geschädigt worden wäre. Im Mittelpunkt stand ein Staranwalt: Hanno Berger. Brorhilker hatte Cum-Ex entdeckt. Das Thema ließ sie nicht mehr los. In ihrem knapp zehn Quadratmeter großen Büro wühlte sie sich durch Akten, zog Verbindungen von einem Beteiligten zum anderen. Sie knüpfte Kontakte zu Staatsanwaltschaften rund um den Globus. Dann folgte ein großer Schlag. Im Oktober 2014 koordinierte Brorhilker eine weltweite Razzia. Ermittler besuchten Adressen in Frankfurt, Zürich, Luxemburg, London und New York. Später trafen die beschlagnahmten Akten palettenweise bei Brorhilker ein. Arbeit für zehn Jahre und mehr.
Der nächste Durchbruch gelang im September 2015. Das NRW-Finanzministerium kaufte von einem Brancheninsider einen Datenträger mit detaillierten Informationen über Cum-Ex-Geschäfte von 129 Geldinstituten. Teils lagen sie direkt vor der Tür wie die WestLB, teils Tausende Kilometer entfernt wie die australische Investmentbank Macquarie in Sydney. Fünf Millionen Euro erhielt der Insider damals für seinen USB-Stick. Nur ein Jahr später berichtete der damalige SPD-Finanzminister Norbert Walter-Borjans, es seien auf Grundlage der Informationen schon falsche Steuererstattungen von mehr als 100 Millionen Euro zurückgeholt worden. Er sei „einigermaßen stolz“, dass seine Beamten sich einen „gewissen internationalen Ruf erarbeitet“ hätten. Hatte Walter-Borjans vor allem die Steuerfahndung Wuppertal im Sinn, als er sein Lob aussprach, freute sich Biesenbach über die Staatsanwaltschaft Köln, als er sein Amt als Justizminister antrat. Niemand führte mehr Verfahren in diesem Milliardenskandal als seine Staatsanwaltschaft. Dann merkte der Minister den Unterschied zwischen Außenwahrnehmung und Innenansicht.
Brorhilker leitete die Ermittlungen im Umfeld von J. Safra Sarasin, M.M. Warburg, Barclays und vielen anderen fast im Alleingang. In ihrer Dienststelle in einem baufälligen Gebäude in Köln-Sülz arbeiteten neben der Abteilungsleiterin ganze zwei weitere Ermittler an Cum-Ex. Biesenbach brauchte eine Weile, um den Grund zu finden. Bis dahin war es Praxis gewesen, Banken für ihre Steuersünden zahlen zu lassen und die Ermittlungen gegen die Verantwortlichen dann einzustellen. Dass eine Staatsanwältin sich gegen einen solchen Ablasshandel stellte, sorgte erst für Verwirrung, dann für Ärger. Ein eingeweihter Verteidiger: „Brorhilker hatte mit großen Widerständen zu kämpfen.“
Cum-Ex-Verfahren: Zu wenige Ermittler, zu viele Täter
Im Herbst 2019 waren für 56 Verfahrenskomplexe mit mehr als 400 Beschuldigten 4,7 Stellen im Kölner Personalplan reserviert. Das Justizministerium und die Staatsanwaltschaft luden zu einer Pressekonferenz. Es sei schon ganz richtig gewesen, den größten Steuerskandal Deutschlands mit einer minimalen Personalstärke anzugehen, erklärte Oberstaatsanwalt Torsten Elschenbroich. Die Fälle seien komplex. Es hätte daher „nichts gebracht, wenn zehn Staatsanwälte Akten gewälzt hätten, ohne zu wissen, wonach sie suchen sollten“. Behördenchef Joachim Roth ergänzte: „Es kam darauf an, einen Faden zu entwirren und das Knäuel dann neu zu ordnen. Da nützt es nichts, wenn 100 Leute an dem Faden ziehen oder einer das macht und 99 schauen zu.“
Nicht jeder verstand diese Logik. Biesenbach jedenfalls verkündete eine Verdoppelung der Cum-Ex-Ermittlertruppe und versprach „Anklagen im Akkord“. Das zuständige Landgericht Bonn war gewappnet. Gerichtspräsident Stefan Weismann sagte: „Wir sind in der Lage, in der Spitze bis zu zehn Strafkammern für Cum-Ex-Verfahren zu eröffnen und mehrere Hauptverhandlungen parallel zu führen.“ Ein Jahr später war keine einzige Anklage mehr am Gericht angekommen. Stattdessen wurden zusätzliche Verfahren von der Staatsanwaltschaft Düsseldorf nach Köln übertragen. Nun lagen dort 68 Verfahren mit 900 Beschuldigten.
Dabei blieb es nicht. Bei einer Razzia fielen Brorhilker die Tagebücher von Christian Olearius in die Hände, damals Aufsichtsratschef der Bank M.M. Warburg. Sie offenbarten, dass Olearius sich mehrmals mit dem SPD-Politiker Johannes Kahrs getroffen hatte. Er suchte Hilfe für das Cum-Ex-Problem seiner Bank. Kahrs organisierte für Olearius Termine beim damaligen Ersten Bürgermeister Hamburgs, Olaf Scholz. Anschließend verzichtete die hanseatische Finanzverwaltung auf Steuern in Höhe von 47 Millionen Euro, die sie laut Aktenvermerk einer Finanzbeamtin zurückfordern wollte.
Behördenleitung sagte Razzia ab
Die Hamburger Staatsanwaltschaft mochte sich damals nicht für den Fall interessieren. Aber als Brorhilker sich die Sachlage vergegenwärtigte, ging an Ermittlungen kein Weg vorbei. Es galt das Legalitätsprinzip: Sobald einer Strafverfolgungsbehörde eine mögliche Straftat bekannt wird, muss sie ihr nachgehen. Brorhilker sah einen Anfangsverdacht bei Kahrs und der Finanzbeamtin und erwirkte Mitte 2020 einen Durchsuchungsbeschluss.
Doch die Leitung der Kölner Staatsanwaltschaft entschied, die schon vorbereitete Razzia wieder abzusagen. Angeblich hatte Brorhilker den Vorgang nicht vorab ihrem Vorgesetzten vorgelegt. Eine Prüfung habe dann ergeben, dass keine Anhaltspunkte für ein strafbares Handeln vorlägen. Im September 2021 wurde dann doch durchsucht. Niemand weiß, ob in der Zwischenzeit Beweise verschwanden. In Biesenbachs Amtszeit stieg die Zahl der Cum-Ex-Planstellen auf 36. Er beförderte Brorhilker zur Hauptabteilungsleiterin und unterstellte ihr im Frühjahr 2021 eine eigene Einheit, die Hauptabteilung H.
Noch immer fremdelt die Behörde mit dem Thema. Die Nachrichtenagentur Bloomberg nahm Brorhilker im Dezember 2021 als einzige Deutsche in ihre „Top 50“ auf – die Liste der „Menschen und Ideen, die 2021 das globale Geschäft bestimmten“. Auf der Webseite der Staatsanwaltschaft Köln dagegen ist die Hauptabteilung H im Geschäftsverteilungsplan nicht vorhanden. Sie arbeitet trotzdem, aber laut Biesenbach nicht so wie gedacht. Eine „Eliteeinheit im Kampf gegen Cum-Ex“ nannte der Ex-Justizminister die Brorhilker anvertraute Truppe. Doch längst nicht alle Planstellen sind besetzt. Viele der Ermittler haben kaum Berufserfahrung. Außerdem verfügte der Behördenleiter Roth, die Cum-Ex-Hauptabteilung solle statt ausschließlich den Steuerskandal auch Corona-Betrugsfälle bearbeiten.
So können sich die Cum-Ex-Beschuldigten zurücklehnen, auch in nächster Nachbarschaft zu den Ermittlern. Niederländische Medien berichteten schon 2005 über Cum-Ex-Geschäfte der WestLB in Düsseldorf. Weder der Aufsichtsrat noch die Finanzaufsicht oder die Staatsanwaltschaft fragten nach. 2012 ging die WestLB unter. Das Thema Cum-Ex schien vergessen. Dann tauchten plötzlich Details auf. Der Datenträger, den das Finanzministerium 2015 kaufte, zeigte Cum-Ex-Transaktionen in Milliardenhöhe. Die WestLB existierte da schon nicht mehr. Ein Sprecher der Nachfolgegesellschaft Portigon stritt die Informationen ab. Auch als im Februar 2016 die Finanzaufsicht alle deutschen Banken fragte, ob sie in Cum-Ex-Geschäfte verwickelt gewesen seien, verneinte Portigon. Im November 2016 gab es dennoch eine Durchsuchung durch die Staatsanwaltschaft Düsseldorf. Nach vier Jahren ohne erkennbaren Fortschritt gab die Behörde den Fall dann nach Köln ab. Dort liegt er immer noch.
Die Zeit spielt für die Angeklagten
Jeder Ermittler in der Cum-Ex-Abteilung in Köln hat im Durchschnitt zwei bis drei große Fälle auf dem Tisch, oft internationale Komplexe mit Dutzenden von Verdächtigen. Bei der WestLB ist eine Anklage frühestens 2024 zu erwarten. Die Taten werden dann bis zu 19 Jahre zurückliegen. Für Peter Biesenbach ist diese Aussicht Grund genug, einen fast einmaligen Vorgang anzustoßen. „Dienstaufsichtsbeschwerden eines Justizministers gegen einen Oberstaatsanwalt sind sehr selten“, sagt Markus Ogorek, Professor am Institut für Öffentliches Recht an der Universität Köln. Auch anderen Experten fallen kaum Beispiele ein.
Diesmal war die Beschwerde unvermeidlich, meint Biesenbach. „Will sich die nordrhein-westfälische Justiz nicht dem Ruf aussetzen, unfähig oder unwillig zu sein, ein solch komplexes und umfangreiches Wirtschaftsstrafverfahren ausermitteln zu können, ist Ihr massives Eingreifen unausweichlich erforderlich“, schreibt der ehemalige Justizminister an seinen Nachfolger Limbach. „Die Hauptabteilung H der Kölner Staatsanwaltschaft benötigt eine unbedingte und vorbehaltlose Unterstützung und deutlich vergrößerte Personalausstattung, um die Masse der Ermittlungsarbeit schaffen zu können.“
Limbach dagegen betont auf Handelsblatt-Anfrage die gute Zusammenarbeit mit Polizei und Finanzverwaltung. Aktuell werde an mehreren Abschlussentscheidungen gearbeitet. Er räumte allerdings ein, dass von 36 Planstellen derzeit fünf nicht besetzt sind. „Parallel bearbeitet die zuständige Hauptabteilung Schwerpunktverfahren aus dem Cum-Ex-Komplex, die besonders rasch gefördert werden, weil sie teils Milliardenschäden zum Gegenstand haben“, betonte Limbach. Er rechne damit, dass die Cum-Ex-Ermittlungen noch 15 Jahre in Anspruch nehmen würden. Doch die Zeit spielt für die Angeklagten.
Als das Landgericht Bonn im Dezember 2022 den Steueranwalt Hanno Berger verurteilte, rechnete der Richter Roland Zickler ihm vor: „Ein besonders schwerer Fall der Steuerhinterziehung beginnt bei 50.000 Euro. Sie haben die Schwelle um mehr als das 5.000-Fache überschritten.“ Berger erhielt aber nicht die Höchststrafe von fünfzehn Jahren Haft, sondern acht. Einer der Gründe für Strafmilderung: die vielen Jahre, die zwischen Tat und Urteil lagen.
Medium: Handelsblatt
Datum: 10.03.2023
Autoren: Julia Leonhardt, Sönke Iwersen und Volker Votsmeier