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Demonstrationen als Gefahrenquelle

Gastbeitrag Markus Ogorek: Die NRW-Regierung verkennt mit ihrem geplanten Versammlungsgesetz die Bedeutung von Grundrechten.

 

Nach dem massiven Polizeieinsatz ausgerechnet bei den Demonstrationen gegen das geplante NRW-Versammlungsgesetz am vergangenen Wochenende deutet sich neuer politischer Widerstand an. 

Trotz Zustimmung im Kabinett äußert die mitregierende FDP inzwischen Zweifel am Entwurf von Innenminister Herbert Reul (CDU). Und das ist gut so. Denn die Neuregelungen sind zwar rechtstechnisch auf hohem Niveau, der besonderen Bedeutung der Versammlungsfreiheit werden sie aber nicht gerecht.
Durch die Föderalismusreform 2006 wurde das Versammlungsrecht in die Zuständigkeit der Länder überführt. Seitdem können die Landtage selbst den Rahmen für Demonstrationen bestimmen und das Bundesversammlungsgesetz durch eigenes Recht ersetzen. Bayern (2008), Sachsen-Anhalt (2009), Niedersachsen (2010), Sachsen (2012), Schleswig-Holstein (2015) und zuletzt Berlin (2021) haben inzwischen von dieser Kompetenz Gebrauch gemacht. In Nordrhein-Westfalen hatten sich CDU und FDP bereits 2017 in ihrem Koalitionsvertrag vorgenommen, eine eigene „moderne“ Regelung zu schaffen. Vier Jahre später liegt der durch das schwarz-gelbe Kabinett gebilligte Entwurf aus dem Hause von Innenminister Reul nun vor.

Im Alltag mögen Demonstrationen mitunter lästig sein; sie verursachen Staus, Lärm, sind unbehaglich. Und doch verlangt das Grundgesetz uns allen ab, diese bewusste Störung auszuhalten. Denn die Versammlungsfreiheit gehört zum Kernbestand der Grundrechte. In seiner berühmten „Brokdorf“-Entscheidung hat das Bundesverfassungsgericht es bereits 1985 auf den Punkt gebracht: „Das Recht des Bürgers, durch Ausübung der Versammlungsfreiheit aktiv am politischen Meinungsbildungsprozess (…) teilzunehmen, gehört zu den unentbehrlichen Funktionselementen eines demokratischen Gemeinwesens“. Mit Blick auf das neue Versammlungsrecht scheint die Landesregierung in Düsseldorf diesen Maßstab an einigen Stellen aus den Augen verloren zu haben.

Im Zentrum der öffentlichen Kritik steht das „Militanzverbot“. Hierdurch wird Versammlungsteilnehmern ein Verhalten untersagt, „das nach außen Gewaltbereitschaft vermittelt und dadurch einschüchternd wirkt“. Neben dem Tragen uniformer Bekleidung sollen etwa das Laufen im Marschschritt sowie das Trommeln unter das Verbot fallen können. Die Anwendbarkeit wird so schier uferlos: Wer auf der Straße schon einmal einer aufgebrachten und lautstarken Gruppe „gegnerischer“ Fußballfans in Trikots begegnet ist, vermag sich unschwer vorzustellen, wie leicht große Menschenmassen einschüchternd wirken können. Die Gesetzesformulierung eröffnet der Polizei, gelinde gesagt, sehr weitreichende Eingriffsmöglichkeiten und macht so ein im Grunde berechtigtes Anliegen angreifbar. Gerade besonnene Einsatzleiter dürften sich mit dieser Rechtsunsicherheit kaum wohlfühlen.

Doch auch im Übrigen lässt der Gesetzentwurf zuweilen Maß und Mitte vermissen. Die – schon bisher umstrittene – Befugnis der Polizei zur Videoüberwachung von Demonstrationen wird fortgeschrieben. Zudem stechen erweiterte Pflichten der Veranstalter zur Kooperation ins Auge. So sollen Anmelder künftig für die Friedlichkeit der Versammlung einstehen – anstatt wie heute nur ordnend auf ihre Durchführung einzuwirken. Werden Veranstalter so faktisch zum Garanten für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, dürfte diese übergroße Verantwortung stark abschreckend wirken. Dass die Polizei unter vergleichsweise geringen Voraussetzungen Anmelder (und Ordner) vor Ort ablehnen kann, führt zu weiterer Verunsicherung. Einschneidend sind zudem die Anforderungen an Spontanversammlungen, die sich ungeplant aus aktuellem Anlass bilden. Bislang mussten diese überhaupt keinen Veranstalter haben, künftig ist eine Leitung zwingend vorgeschrieben.

Fragen wirft ebenso das vorgesehene „Störungsverbot“ auf. Der Gesetzentwurf legt nahe, dass eine Demonstration generell nicht gestört werden darf, und vernachlässigt dabei die Rechte der Gegendemonstranten sowie das Erfordernis eines angemessenen Ausgleichs im Einzelfall. Dass zahlreiche Zuwiderhandlungen in NRW als Straftaten gelten sollen, obwohl selbst das rigide bayerische Versammlungsrecht sie teils nur zu Ordnungswidrigkeiten erklärt, beeinträchtigt das ungünstige Gesamtbild noch weiter.

Unabhängig von aller Kritik im Detail sind vor allem Stoßrichtung und Leitgedanke des Gesetzentwurfs problematisch. Die Landesregierung sieht in Versammlungen offenbar in erster Linie Gefahrenquellen, die Bedeutung des Demonstrationsgrundrechts wird in Teilen verkannt.

Um an dieser Stelle keinen falschen Eindruck zu erwecken: Es kann keine Rede davon sein, die Regierung von Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) wolle – wie manche Kritiker meinen – Demonstranten künftig wie Kriminelle behandeln. Im Ansatz verdient das Vorhaben eines NRW-Versammlungsgesetzes sogar Beifall: Endlich nutzt das Land Spielräume, die ihm das Grundgesetz schon lange gibt. Dennoch bleibt die Koalition mit dem nun vorgelegten Entwurf weit hinter ihren Möglichkeiten zurück. Der jetzt erwachte Widerstand der FDP gibt gerade noch rechtzeitig Gelegenheit zum Umdenken und Einlenken. Die Landesregierung sollte diese Chance nutzen.

 

Medium: Kölner Stadt-Anzeiger
Datum: 30.06.2021
Autor: Markus Ogorek (Gastbeitrag)