Prof. Dr. Christof Hettich ist Rechtsanwalt und Vorstandsvorsitzender der SRH, einem der größten Gesundheits- und Bildungsunternehmen in Deutschland. Prof. Dr. Markus Ogorek ist Direktor des Instituts für Öffentliches Recht und Verwaltungslehre der Universität zu Köln.
Als im März 2020 die Schreckensbilder aus Bergamo um die Welt gingen, befiel hierzulande viele die Angst vor dem Coronavirus. Davon ist heute teils wenig zu spüren, im Gegenteil ist bei einigen eine erstaunliche Gleichgültigkeit eingekehrt. Vielleicht ist es allzu menschlich, dass Gewöhnung selbst einer weltweiten Gesundheitskrise den Schrecken nimmt oder man irgendwann „einfach nicht mehr kann“. Dass manche Diskussion sicherlich anders verlaufen wäre, wenn wir am Anfang der Pandemie bereits von den über 117.000 Deutschen gewusst hätten, die ihr Leben seither lassen mussten, sollte uns eine Mahnung in Bezug auf künftige Überlegungen sein.
Gesichert ist: Impfungen sind im Kampf gegen das Virus von zentraler Bedeutung. Dies gilt zuvörderst für die modernen mRNA-Impfstoffe, die ganz ohne massenhafte Impfschäden global milliardenfach eingesetzt wurden. Die Immunisierungen sollen Infektionen verringern, vor allem aber schwere Krankheitsverläufe unterbinden. Seit dem Aufkommen der Omikron-Variante stellen einige in Frage, dass sich diese Ziele noch erreichen lassen. Richtig ist, dass sich Geimpfte nun ebenfalls wieder verstärkt infizieren können. Nur weil Verläufe bei dieser Mutante durchschnittlich milder verlaufen, sind sie keineswegs harmlos – insbesondere ohne Auffrischungsimpfung und für bereits geschwächte Personen. Wer mit Hinweis auf die aktuelle Entwicklung grundsätzliche Zweifel an der Sinnhaftigkeit der Impfkampagne sät, greift daher zu kurz.
Wir erleben den Omikron-Ausbruch nicht zuletzt deshalb mit besonderer Härte, weil das Immunisierungsniveau hierzulande unter dem anderer europäischer Staaten liegt. Bei einem hohen Übertragungsgeschehen der bisherigen kann so auch eine neue Virusvariante schnell Fuß fassen und zum Beispiel sinkende Impfstoffwirksamkeiten mit sich bringen. Zudem ist immer noch ein ganz überwiegender Anteil der aufgrund einer Covid-19-Erkrankung intensivpflichtigen Patienten ungeimpft, allein in den Kliniken der SRH sind es über 80 Prozent. Diese Kapazitätsauslastung kann lebensbedrohliche Folgen für andere Patienten haben, deren mitunter zeitkritische Operationen vielfach verschoben werden müssen. Zwar haben Forscher der Hoffnung Ausdruck gegeben, das Virus könne sich womöglich bald „auslaufen“ – bislang gehen neue Varianten aber stets mit weiteren oder verlängerten Freiheitseinschränkungen einher. Die allgemeine Impfpflicht könnte ein wichtiges Instrument sein, um aus diesem Kreislauf auszubrechen.
Eine rechtlich vorgeschriebene Immunisierung ist ein schwerer Grundrechtseingriff. Das Recht auf körperliche Unversehrtheit ist jedoch nicht absolut gewährleistet, sondern kann unter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsprinzips aufgrund eines Gesetzes eingeschränkt werden. Mit anderen Worten: Die Maßnahme muss legitimen Zwecken dienen, hierzu geeignet und erforderlich sein und darf in ihrer Intensität nicht außer Verhältnis stehen. Die Prüfung dieser Kriterien erfordert in der Praxis schwierige normative Wertungen. Könnte es ein ebenso effektives und zugleich milderes Mittel sein, ausschließlich älteren und vorerkrankten Personen eine Impfverpflichtung aufzuerlegen? Und kann sichergestellt werden, dass eine allgemeine Impfpflicht hinreichende Wirkungen entfaltet? Solche und ähnliche Vorbehalte sind zuletzt von manchen Juristen formuliert worden, sie fanden (etwa im Ethikrat) bislang aber keine Mehrheit.
Am Grundgesetz wird die Impfpflicht kaum scheitern
Denn so richtig es ist, die Einführung eines medizinethischen Themas kritisch zu begleiten, so wichtig ist es, die grundgesetzlich vorgegebene Rollenverteilung anzuerkennen. So kommt den demokratisch gewählten Entscheidungsträgern von Verfassungs wegen eine Einschätzungsprärogative zu, was die Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts zur sog. Bundesnotbremse unlängst erneut untermauert haben. Zugleich machten die Richter deutlich, dass pandemiebedingte Schutzmaßnahmen mit zunehmender Geltungsdauer an Eingriffsintensität gewinnen können. Auch vor diesem Hintergrund dürfte eine sorgfältig erwogene allgemeine Impfpflicht als Kernstück einer langfristigen Gesamtstrategie kaum am Grundgesetz scheitern. Dies gilt überdies deshalb, weil sie nicht mit einem Impfzwang gleichzusetzen wäre, auf eine Verweigerung also lediglich Bußgelder folgten.
Die allgemeine Impfpflicht würde die Pandemie ganz sicher nicht von heute auf morgen beenden. Realistisch ist aber, dass sie einige Ungeimpfte zum Umdenken bewegen dürfte – oder jedenfalls zur Impfung. Stiege die Immunisierungsquote auf über 80 oder gar 90 Prozent, wäre viel gewonnen. Zugleich würde die mit der bereits geltenden sektoralen Impfpflicht für Gesundheitsberufe einhergehende Schieflage beseitigt. Selbstverständlich wissen alle vernünftigen Ärzte und Pfleger, wie sehr sie dem Infektionsschutz verpflichtet sind. Wenn der Staat jedoch zuerst Regelungen für jene Gruppe erlassen zu müssen glaubt, die sich angesichts der vielfach freiwillig ungeimpften Patienten tagtäglich großen Risiken aussetzt, so verstärkt dies vor allem das Unverständnis des Gesundheitspersonals, das sich seit langem von der Politik alleingelassen fühlt.
Um es auf den Punkt zu bringen: Bei der Einführung einer allgemeinen Impfpflicht geht es längst nicht nur um Eigenschutz. Die Immunisierung dient auch der Abwendung von Überlastungen im Gesundheitswesen sowie von neuen Mutationen – und damit letztlich dem Schutz aller. Sie ist das einzig erfolgversprechende Instrument, um die lange Kette von Freiheitseinschränkungen zu durchbrechen. Wer dies trotz monatelanger Aufklärung, unzähligen Appellen und des zu Unrecht als „Impfpflicht durch die Hintertür“ verschrienen 2G-Modells verkennt, dem sollte der Staat durch die Impfpflicht für jedermann den Gang zum Arzt erleichtern.
Medium: WirtschaftsWoche
Datum: 26.01.2022
Autoren: Christof Hettich und Markus Ogorek (Gastbeitrag)