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„Das muss schiefgehen“

Corona-Notbremse der Bundesregierung erntet harsche Kritik von Juristen.

 

MAINZ/KÖLN/BIELEFELD. Das Bundeskabinett hat am Dienstag die Änderung des Infektionsschutzgesetzes beschlossen. Am Mittwoch kommender Woche entscheidet der Bundestag darüber. Die in ein Gesetz gegossene „Corona-Notbremse“ beinhaltet weitreichende Konsequenzen für die Bevölkerung. Die greifen, wenn die Zahl der Neuansteckungen in einer Stadt oder einem Landkreis pro 100 000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen auf mehr als 100 steigt. Die Pläne der Bundesregierung ernten heftige Kritik – auch und gerade von Juristen.

So macht der frühere Vorsitzende des Deutschen Richterbundes, Jens Gnisa, seinem Ärger über das Gesetz auf seiner Facebook-Seite Luft. „Man sieht mich selten fassungslos. Aber nun ist es so weit“, stellt der Direktor des Amtsgerichts Bielefeld dort fest. Der Bund schieße deutlich über alle Verhältnismäßigkeitsgrenzen hinaus. Nur auf die Inzidenz abzustellen, sei bei derartig drastischen Maßnahmen willkürlich, weil die reine Inzidenz davon abhänge, wie viel getestet werde. „Dies ist manipulierbar“, schreibt Gnisa. Ab einer Inzidenz von 100 nächtliche Ausgangssperren zu verhängen, obwohl von Gerichten deren Wirksamkeit angezweifelt wurde, sei eine Nichtachtung der Justiz. Er sei nicht gegen einen Lockdown als solches, soweit er bei einem Infektionsgeschehen erforderlich sei, schiebt er in einem weiteren Post nach. Dieses Gesetz führe aber zu einem kaum noch steuerbaren Dauerzustand. „Unsere Gesellschaft wird gewissermaßen auf Autopilot gestellt“, so Gnisa. Kein Bürgermeister, kein Landrat, kein Ministerpräsident, kein Landtag, nicht einmal ein Verwaltungsgericht könne mehr korrigierend eingreifen.

Dem Mainzer Staatsrechtler Friedhelm Hufen ist das Gesetzgebungsverfahren zu hektisch. „Das Ganze ist mit heißer Nadel gestrickt“, sagt er. Hufen versteht zwar die Argumente der Intensivmediziner und findet auch gut, dass endlich der Bundestag einbezogen ist, „doch jetzt wird ein Eilgesetz durchgepeitscht“. Zudem sei völlig ungeklärt, ob der Bundesrat der Gesetzesänderung zustimmen müsse oder nicht. Da das Gesetz tief in die Verwaltungsstrukturen der Länder eingreife, hält der Mainzer Jurist das Placet des Bundesrats jedoch für unverzichtbar. Kritisch sieht das frühere Mitglied des Verfassungsgerichtshofes Rheinland-Pfalz auch, dass das Bundesgesetz den Rechtsschutz beschneidet. Das bedeutet, man kann nicht gegen das Gesetz oder eine Verordnung des Bundes vor einem Verwaltungsgericht klagen, sondern nur vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe. Dort könnte das Vorhaben der Bundesregierung indes noch – zumindest vorläufig – gestoppt werden. Etwa, wenn ein Bundesland eine Normenkontrollklage gegen das Gesetz anstrengt. „Eine Notbremse gegen die Notbremse“, bringt es Hufen auf den Punkt.

Auch Hufen stößt sich am alleinigen Bezug auf den Inzidenzwert. „Es gibt immer mehr Experten, die sagen, der Inzidenzwert 100 ist willkürlich gewählt, und dass die Dinge, auf die es ankomme, andere sind. Nämlich die konkrete Ansteckungsgefahr, die Gefahr schwerer Verläufe sowie der kritische Zustand des Gesundheitswesens. Hufen untermauert das mit einem Beispiel: Gebe es in einem Landkreis einen Hotspot mit vielen Infizierten, gehe die Inzidenz sofort hoch und es gelten automatisch Ausgangssperren, obwohl im restlichen Kreisgebiet überhaupt keine Gefahr bestehe. „Man versucht hier, ein filigranes medizinisches Problem mit dem Brotmesser zu lösen“, kritisiert Hufen. Und das alles unmittelbar und direkt, ohne Spielräume für die Verwaltung und ohne dass klar ist, ob nun das vorrangige Bundesgesetz oder dort nicht geregelte Fragen des Landesrechts gelten. „Das muss schiefgehen“, ist sich der Professor für Öffentliches Recht, Staats- und Verwaltungsrecht an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz sicher. Mit der „Notbremse“ würden zudem neben der Ausgangssperre Problemfelder neu aufgemacht, die man eigentlich schon erledigt hatte. Das Beherbergungsverbot zum Beispiel, das nun schärfer denn je zum Tragen komme. Oder auch die Isolation der Pflegeheime. „Obwohl dort schon 90 Prozent der Bewohner geimpft sind.“

Zustimmung zu Entscheidung im Parlament, Kritik am Inhalt

Markus Ogorek begrüßt im Grundsatz, dass nun der Bund das Heft in die Hand nimmt und der Bundestag über die Änderung des Infektionsschutzgesetzes entscheidet. „So schwerwiegende Grundrechtseingriffe müssen durch den Gesetzgeber selbst, hier also durch den Bundestag, beschlossen werden“, sagt der Direktor des Instituts für Öffentliches Recht und Verwaltungslehre der Uni Köln. Mit der Gesetzesnovelle kann nun auch die Bundesregierungen Rechtsverordnungen zum Kampf gegen das Coronavirus erlassen, was bislang allein Sache der Landesregierungen gewesen sei. Kritisch bewertet Markus Ogorek jedoch die Inhalte des neuen Gesetzes und deren Konsequenzen. Der Kölner Jurist reiht sich in die Phalanx derer ein, die den ausschließlichen Bezug auf den Inzidenzwert für hochproblematisch halten. „Je höher die Impfquote, desto geringer ist die Relevanz dieses Wertes“, stellt Ogorek fest. Denn es sei davon auszugehen, dass in der Folge der Impfung älterer dann vor allem jüngere Menschen erkranken werden, bei denen der Krankheitsverlauf häufig nicht so schwer sei. Außerdem sage die Inzidenz nichts darüber aus, wie sich die Situation in den Krankenhäusern vor Ort darstelle.

Nicht minder problematisch bewertet Ogorek die in der „Notbremse“ enthaltene Ausgangssperre. „Führende Aerosolforscher gehen davon aus, dass Zusammenkünfte draußen nicht so gefährlich sind wie die Treffen in geschlossenen Räumen.“ Es müsse also bezweifelt werden, ob die Ausgangsverbote tatsächlich so effizient wirkten, wie erhofft. Eigentlicher Sinn der Norm, so der Juraprofessor, sei es auch, Zusammenkünfte in Privaträumen zu unterbinden, indem man den Bürgern „den Weg nach Hause“ am Abend abschneide. Weil das neue Gesetz aber auch für Privatwohnungen geltende Kontaktbeschränkungen vorsehe, wirke es so, als glaube der Bund selbst nicht an die Wirksamkeit der von ihm vorgesehenen Kontaktbeschränkung in Wohnungen. Unabhängig davon gehe von einer Ausgangssperre ein erheblicher psychologischer Druck aus. „Man kann ohnehin nicht viel unternehmen, weil fast alles geschlossen ist, und dann müssen sich die Bürger auch noch eingesperrt fühlen“, verdeutlicht Markus Ogorek. Er vermisst am Gesetzentwurf auch eine Abstufung. Vor dem Erlass einer Ausgangssperre könnte man erst einmal nachts auf beliebten Plätzen und in öffentlichen Verkehrsmitteln verstärkt kontrollieren. Der Kölner Juraprofessor sieht hier ein Vollzugsdefizit.

Ein gravierendes Problem ist für Ogorek die Transparenz und Information darüber, wann die „Notbremse“ in den Landkreisen und Städten konkret in Kraft tritt. „Es wird nirgendwo extra verkündet“, verdeutlicht Ogorek. Unter dem Gesichtspunkt der Normenklarheit sei das völlig ungenügend. „Der rechtstreue Bürger muss wissen, was muss ich tun, um das Gesetz zu befolgen?“ Stattdessen werde ihm nun abverlangt, täglich im Internet die aktuellen RKI Inzidenzzahlen zu kontrollieren. Und ein anderer Aspekt rückt für Markus Ogorek in den Blick: „Man kann auch zukünftig nicht planen.“ Egal, ob Messe, Volksfest oder Familienfeier: Steigt die Inzidenz über 100 in Stadt oder Landkreis, müssen alle Veranstaltungen gestrichen werden.

 

Medium: Wiesbadener Kurier
Datum: 16.04.2021
Autor: Thomas Ehlke