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Angst vor der doppelten Blamage

Sogar in NRW tut sich die CDU schwer mit ihrem Kandidaten Armin Laschet. Sie fürchtet den Machtverlust auch am Rhein.

 

Düsseldorf – Matthias Hauer steht im Regen. Nur, das kümmert den CDU-Bundestagsabgeordneten nicht, während er vorm Supermarkt mit einem Passanten diskutiert. Hauer pariert alle Fragen, von A bis Z, von der Aktienrente bis zu den Zuschüssen, die der 43-jährige Finanzpolitiker aus Berlin in seine Heimatstadt Essen geholt hat. Nach 20 Minuten verspricht der Wähler, dem lokalen Kandidaten seine Erststimme zu geben. Geschafft! Doch Hauer lächelt gequält. „Bei der Zweitstimme für Armin Laschet ist der Mann leider noch unsicher.“ Hauer schlägt den Kragen seiner schwarzen Regenjacke hoch: „Uns bläst der Wind ins Gesicht.“

Mehr als der Niesel plagt Hauer die politische Großwetterlage. Im Essener Süden und Westen, seinem Wahlkreis, sei die Stimmung zwar gut. Aber: „Ein besserer Bundestrend wäre mir lieb.“ Vor acht Jahren gewann Hauer sein erstes Mandat im Bundestag per Zittersieg, mit nur 93 Stimmen Mehrheit. Nun, vier Wochen vor dem Wahltag, schwant ihm: „Es kann wieder knapp werden.“ Nicht nur für ihn selbst, sondern mehr noch für den Mann, dessen Broschüren am CDU-Infostand gerade nass geregnet werden – für Armin Laschet.

Hauer ist bekennender Laschet-Fan. Aber er weiß auch: „Sein Image ist ein Problem, er ist einer der unterschätztesten Politiker, die ich kenne.“ Der Essener Abgeordnete checkt regelmäßig demoskopische Berechnungen im Internet, ob sein Ministerpräsident es überhaupt in den Bundestag schaffen wird. Laschet hat Vabanque gespielt: Der Kanzlerkandidat bewirbt sich in keinem Wahlkreis um ein Direktmandat, baut allein auf die Zweitstimmen, um auf Platz 1 der CDU-Landesliste nach Berlin zu kommen. Das wird nun eng. Momentan, so Hauer, räumten die Prognosen dem Aspiranten aus Aachen zwar wieder Chancen ein. „Aber wochenlang prophezeiten die Umfragen, dass unsere Landesliste nicht ziehen wird.“ Kanzler werden könnte Laschet zwar auch ohne Mandat im Bundestag – aber es wäre für ihn eine zweite, sehr persönliche Schmach. Nach der absehbaren Schande, als Spitzenkandidat der Union ihr miserabelstes Wahlergebnis zu bescheren.

Die NRW-CDU trifft diese Misere gleich doppelt hart. „Zwischen depressiver Verzagtheit und blinder Wut“ beschreibt ein Landtagsabgeordneter die christdemokratische Seelenlage an Rhein und Ruhr, „uns drohen zwei Blamagen auf einen Streich“. Laschet könnte nicht nur den Kampf ums Kanzleramt verlieren. Nein, der Ministerpräsident könnte seine Christdemokraten nach nur fünf Jahren Regierungszeit auch um die Macht am Rhein bringen: Mitte Mai 2022 lauern Landtagswahlen in NRW und noch wissen die Christdemokraten nicht, wer Laschets Lücke ausfüllen und sie führen soll in die Wahl nach der Wahl.

Dabei schien doch alles geklärt zu sein. Eigentlich. Anfang Mai hatte Laschet alle Spekulationen um ein Rückfahrticket nach Düsseldorf im Fall einer Wahlniederlage in der FAZ beendet: „Mein Platz ist nach der Bundestagswahl in Berlin.“ Doch nun, da der CDU ein Debakel und dem 60-jährigen CDU-Chef gar das Ende seiner Karriere droht, befallen einige Parteigranden „zweite Gedanken“. Laschet, dem Landesvater, stehe sein Platz in der Heimat zu – „wenn er denn will“. Will er? Aus Laschets Umfeld raunt es, der Chef bleibe dabei: Nein, es gebe „kein Zurück.“ Einen Wahlkampf nach dem Motto „Zu schlecht für Berlin, aber gut genug für NRW“ – das mag Laschet sich nicht antun.

Laschets Wirkung im Land lässt sich längst beobachten. Auch wenn er nirgends zu sehen ist. Beispiel Essen: Morgens um neun Uhr lehnen am CDU-Stand in der ehrwürdigen Arbeitersiedlung Margarethenhöhe sieben Plakate: Fünfmal lächelt Hauer, dazwischen zu sehen sind eine Polizistin im Dienst und eine Mutter, die selig ihr Baby küsst. Die beiden Laschet-Poster bleiben derweil unsichtbar in der Ecke stehen. „Wenn wir die Bilder aufstellen, dann müssen wir in jedem Gespräch erst die Vorurteile abarbeiten“, klagt ein Wahlhelfer. Laschets vermeintlicher Zickzack-Kurs in der Pandemie, sein Feixen in den Flutgebieten, die alte Affäre um die Benotung von Klausuren, die er als Uni-Dozent einst vertrödelt hatte. Und so weiter.

"Nein, wir verstecken ihn nicht“, beteuert Kandidat Hauer. Er verweist auf die Laschet-Flyer, die überall auslägen, und auf zwei Laschet-Termine in Essen: „Wir wollen ihn als Menschen präsentieren.“ Gleichwohl kann man kilometerweit durch den Essener Süden fahren, ohne ein Laschet-Plakat zu entdecken. Stattdessen Hauer überall. Laschet weiß um diese Stimmung. Und er kennt die Forsa-Umfrage, in der schon Ende April 62 Prozent der befragten Westfalen und Rheinländer bekundeten, das Land brauche einen neuen, jüngeren Regierungschef. 71 Prozent aller CDU-Wähler hofften schon damals, mit einem neuen Kopf an der Spitze neues Profil und verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen.

Ein Neuer muss also her. Auch diese Personalie schien Anfang Mai bereits geklärt zu sein: Hendrik Wüst, der schneidige Verkehrsminister, wurde intern zum Kronprinzen auserkoren. Mit Laschets stiller Zustimmung zwar, aber ohne Proklamation. Offiziell krönen soll den 46-Jährigen erst ein CDU-Landesparteitag am 23. Oktober, weshalb sich Wüst strikt bescheiden gibt: Jetzt gehe es darum, dass Armin Laschet Kanzler werde: „Alles Weitere kommt später.“

Wüst ist Favorit, weil er etwas hat, das fast allen anderen Anwärtern fehlt: ein Mandat im aktuellen Landtag. Nordrhein-Westfalens Verfassung schreibt vor, dass ein Ministerpräsident dem Parlament angehören muss. Ina Scharrenbach etwa, die fleißige Heimatministerin, erfüllt diese Voraussetzung nicht. Andere potenzielle Wüst-Konkurrenten mit Sitz im Landtag wie der kantige CDU-Fraktionschef Bodo Löttgen genügen nicht dem Wunsch nach einem Generationswechsel: Löttgen ist fast zwei Jahre älter als Amtsinhaber Laschet.

Die NRW-Verfassung protegiert Wüst, auch gegen sonst mögliche NRW-Avancen von Promis aus Berlin. Die Rechtslage sei „für alle Kandidaten, die nicht dem Landtag angehören, ein unlösbares Problem“, urteilt Markus Ogorek, Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Uni Köln. Wüst hat beste Chancen, im Herbst gleich drei Posten zu ergattern: Er würde NRW-Parteichef und Spitzenkandidat für die Landtagswahl – und er könnte, wenn alle einhundert Abgeordneten von CDU und FDP verlässlich mit Ja stimmen, neuer Ministerpräsident werden. Schwarz-Gelb regiert auf Kante, mit nur einer Stimme Mehrheit.

Doch es regt sich Widerstand in den eigenen Reihen. CDU-Fraktionschef Löttgen soll nach SZ-Informationen am Abend einer Klausurtagung Mitte August im Sauerland heftig gepoltert haben gegen Wüsts Durchmarsch. Mehrere Quellen bestätigen, Löttgen habe da unter anderem vor Wüsts Nähe zu Bodo Hombach gewarnt, dem einstigen Strippenzieher der NRW-SPD. Aus der CDU-Fraktion war dazu keine Stellungnahme zu erhalten. Aber viele Parteifreunde haben sich gemerkt, dass es Hombachs „Bonner Akademie für Forschung und Lehre praktischer Politik“ (BAPP) war, die im April die Forsa-Umfrage mit dem Wählerwunsch nach einem Neuanfang ohne Laschet in Auftrag gegeben hatte.

Inzwischen, so schätzt einer aus dem CDU-Vorstand, „kursieren bei uns dutzendweise Szenarien“ für einen Wachwechsel ohne Wüst. Gemeinsamer Nenner dieser Gedankenspiele ist ein geschäftsführender Übergangs-Ministerpräsident, der die Monate zwischen Laschets Abgang und den Wahlen im Mai überbrücken könnte. Diese Rolle, so Variante A, könne Löttgen selbst ausfüllen. Weil ein solcher CDU-Vorstoß jedoch wiederum den Koalitionspartner FDP verprellen dürfte, der bisher mit Joachim Stamp den stellvertretenden Ministerpräsidenten stellt, existiert ein noch verwegenerer Plan B: Der liberale Vizeministerpräsident Stamp solle als Interimslösung die Regierung ins Ende ihrer Amtszeit führen. Gezielter Nebeneffekt beider Szenarien wäre, dass Heimatministerin Ina Scharrenbach dann CDU-Spitzenkandidatin für die NRW-Wahlen werden könnte – und sich im neuen Landtag mit frischem Mandat zur Regierungschefin küren lassen könnte.

Es gibt reihenweise CDU-Politiker, die diese Pläne entsetzen: „Solche Manöver sechs, sieben Monate vor einer Wahl – das ist Wahnsinn“, schimpft ein Mitglied des NRW-Landesvorstands. Bedenken gegen ein dermaßen langes Regime ohne demokratische Legitimation äußert auch Staatsrechtler Markus Ogorek: „Die Verfassung verlangt, zeitnah nach dem Rücktritt von Herrn Laschet einen Nachfolger zu wählen – und zeitnah heißt nicht, sieben oder vier Monate später.“

Sieben oder vier Monate? Der Jurist Ogorek nennt diese Zeitspannen nicht zufällig. Denn am Ende hängt eben alles wieder von Armin Laschet ab. Schafft er es in den Bundestag, so müsste er spätestens Ende Oktober – also sieben Monate vor der Landtagswahl – sein Amt in Düsseldorf aufgeben. Das gebietet die NRW-Verfassung, die in Artikel 64 Absatz 4 es jedem Mitglied der Landesregierung untersagt, dem Bundestag oder der Bundesregierung anzugehören.

Falls Laschet hingegen kein Bundestagsmandat erringt, so dürfte er in Düsseldorf zunächst Ministerpräsident bleiben und in Berlin als CDU-Chef die Koalitionsverhandlungen führen. Das könne sich hinziehen bis Januar oder Februar, vermutet Ogorek: „Herr Laschet müsste sein Amt erst abgeben, sobald ihn der Bundespräsident zum Bundeskanzler ernennt.“ Auch dies ist ein Szenario ohne Gewähr. Vorher müsste Laschet die Wahl überstehen – und die Machtkämpfe überleben, die ihm danach in der Union drohen.
 

Medium: Süddeutsche Zeitung
Datum: 01.09.2021
Autor: Christian Wernicke